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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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goss ich mir noch ein Glas Gewürztraminer ein, verschloss die Flasche mit einem Plastikkorken – ich hasse die Dinger, aber ich muss einräumen, dass es seit ihrem Auftauchen keine Weine mehr gibt, die nach Korken schmecken – und stellte sie in den Kühlschrank. Alles ganz langsam und sorgfältig. Wie ich mich immer verhalte, wenn mich eine neue Aufgabe erwartet, die mir Angst macht. Ich suche dann nach Ausreden, um den Anfang immer mehr hinauszuschieben, wobei ich zugegebenermaßen eine beachtliche Kreativität entwickle.
    Pathologisches Aufschiebeverhalten, so heißt das offiziell.
    Angeblich ist diese Haltung typisch für Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl, die unangenehme Aufgaben prinzipiell hinausschieben, um nicht mit ihren eigenen Schwächen, Ängsten und Grenzen konfrontiert zu werden. Ich habe das aus einem Buch, das ich einmal durchgeblättert habe, mit dem Titel Hör auf, die Dinge aufzuschieben, und beginne zu leben! Es war ein Handbuch, in dem die Ursachen dieses Phänomens analysiert wurden und das auf circa zweihundert Seiten absurde Übungen vorschlug, mit deren Hilfe man – wortwörtlich – »sich von dieser Krankheit des Willens befreien und ein erfülltes, produktives und frustrationsfreies Leben führen« konnte.
    Ich dachte damals, dass ich eigentlich gar keine Lust auf ein allzu produktives Leben hatte, dass ich langsam allergisch auf lebensverbessernde Handbücher reagierte und dass ich im Grunde gegen eine maßvolle Dosis Frust nichts einzuwenden hatte. Also stellte ich das Buch wieder ins Regal – ich war in einer Buchhandlung und schnorrte wie immer die Lektüre, indem ich dort las –, kaufte ein Buch von Alan Bennett und ging heim.
    Nachdem ich alle Spuren meines japanischen Mahls vernichtet, noch ein wenig Wein getrunken und meine Mails einer weiteren überflüssigen Kontrolle unterzogen hatte, war ich endlich so weit anzufangen.
    Ich beschloss, die Akte nach dem chronologischen Ablauf der Ermittlungen durchzugehen. Vom Moment des Verschwindens an. Normalerweise mache ich es anders.
    Wenn mein Mandant im Gefängnis ist oder unter Hausarrest steht, lese ich immer zuerst das Urteil, das heißt den letzten Akt des Falles. Wenn ich den Richter kenne, der es verfasst hat, kann ich mir gleich ein Bild machen und einschätzen, wie ernst die Sache ist. Nach dem Urteil gehe ich dann die Akte rückwärts durch, von den neueren Beiträgen bis zum Anfang. Dasselbe tue ich, wenn ich einen Fall nach der ersten Instanz übernehme, das heißt, ich lese zuerst das Urteil, das ich anfechte, und dann den Rest.
    Bei Manuela Ferraros Akte dachte ich mir, ich würde am besten die Ermittlungen anhand der Unterlagen nachverfolgen, in der Hoffnung, irgendeine Ahnung davon zu bekommen, was hinter dieser Sache steckte.
    Es war ein so genanntes Modell 44 – so hießen die Vordrucke für Ermittlungen gegen Unbekannt. Auf dem Umschlag stand der Name des Gesuchten, das Datum seines Verschwindens und die Bezeichnung der Straftat. Artikel 605 des Strafgesetzbuchs, Freiheitsberaubung. Die einzige Straftat, die in Frage kommt, wenn jemand verschwindet und es keine konkreten Anhaltspunkte gibt.
    Der erste Teil der Akte enthielt den Bericht der Carabinieri – unterzeichnet von Maresciallo Navarra, einem Unteroffizier, den ich sehr schätze –, der die Vermisstenanzeige sowie die ersten Vernehmungsprotokolle enthielt.
    Ich begann mit der Aussage des Mädchens, das Manuela zum Bahnhof gebracht hatte. Anita Salvemini, so hieß sie, war ebenfalls Gast in dem Trullo gewesen, wo Manuela das Wochenende verbracht hatte. Sie hatte sie im Auto mitgenommen, weil sie nach Ostuni fahren wollte, wo sie sich mit Freunden verabredet hatte. Die beiden Mädchen hatten sich erst an dem besagten Wochenende kennengelernt.
    Während der zwanzigminütigen Fahrt vom Wochenendhaus zum Bahnhof hatten die Mädchen sich unverbindlich unterhalten. Manuela hatte erzählt, dass sie in Rom Jura studierte und vorhatte, noch am selben oder am nächsten Abend dorthin zu fahren.
    Nein, sie wusste nicht, ob Manuela sich am Bahnhof in Bari mit jemandem verabredet hatte, und ebenso wenig, ob sie einen Freund hatte oder mit jemandem ausging.
    Nein, Manuela hatte nicht besorgt gewirkt. Allerdings hatte sie Manuela auch nicht besonders genau angesehen, weil sie, Anita, schließlich das Auto fuhr und deshalb auf die Straße schauen musste.
    Nein, sie glaubte nicht, dass ihre Mitfahrerin auf der Fahrt von den Trulli bis zum Bahnhof Anrufe getätigt

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