Gullivers Reisen
Herrn einen Begriff von der Bedeutung des Wortes Meinung , oder über die Möglichkeit des Disputirens, nur mit größter Schwierigkeit beibringen konnte. Er meinte nämlich, die Vernunft lehre uns ja nur da zu läugnen oder zu behaupten, wo wir unserer Sache gewiß seyen; läge irgend etwas jenseits unserer Kenntnisse, sey beides für uns unmöglich. Somit sind Controverse, Zänkereien und Disputationen über falsche und zweifelhafte Sätze bei den Hauyhnhnms durchaus unbekannte Uebel. In derselben Art pflegte er mich auszulachen, als ich ihm unsere verschiedenen Systeme der Naturphilosophie auseinandersetzte, weil ein Geschöpf, welches auf Vernunft Anspruch mache, sich auf die Vermuthungen anderer Leute so viel einbilde, und besonders auch in Dingen, wo diese Kenntniß, selbst wenn sie gewiß wäre, zu Nichts helfen könne. Hierin stimmte er vollkommen mit den Gedanken des Socrates überein, wie sie Plato uns darlegt, und ich glaube, durch diese Bemerkung jenem Fürsten der Philosophen die größte Ehre zu erweisen. Oft habe ich überlegt, wie ungeheure Verluste die europäischen Buchhandlungen durch eine solche Lehre erleiden müßten und wie viele Wege zum Ruhm der gelehrten Welt dadurch verschlossen würden. Freundschaft und Wohlwollen sind die zwei hauptsächlichsten Tugenden der Hauyhnhnms, und diese werden nicht auf einzelne Individuen beschränkt, sondern über das ganze Geschlecht hin ausgedehnt. Ein Fremder, aus dem entferntesten Theile des Landes, wird eben so wie der nächste Nachbar behandelt; wohin er auch kömmt, benimmt er sich sogleich als sey er zu Hause.
Die Hauyhnhnms beobachten Anstand und Höflichkeit im höchsten Grade, sind aber mit Komplimenten gänzlich unbekannt. Sie hegen keine Zärtlichkeit zu ihren Füllen; die Sorgfalt, die sie jedoch auf die Erziehung verwenden, entspringt ausschließlich aus den Vorschriften der Vernunft. Ich bemerkte auch, daß mein Herr dieselbe Neigung zu den Kindern seines Nachbars hegte, wie für seine eigenen. Sie glauben, die Natur erfordere, daß man die ganze Gattung liebe; es sey ferner vernünftig, daß man blos diejenigen Individuen auszeichne, welche einen höheren Grad der Tugend besitzen.
Wenn eine Matrone der Hauyhnhnms mit einem Füllen niedergekommen ist, so kommt sie mit ihrem Gatten nur dann noch zusammen, wenn durch irgend einen Zufall ein Füllen ihrer Nachkommenschaft verloren geht; ein Umstand, der sich jedoch nur sehr selten ereignet. Betrifft ein solches Unglück ein Individuum, dessen Gattin schon sehr alt ist, so erhält dasselbe ein Füllen von einem andern Paare, das dann wieder zusammen lebt. Diese Vorsicht ist nothwendig, damit das Land nicht zu sehr bevölkert werde. Die Race der niederen Hauyhnhnms muß sich jedoch nicht so genau auf diese Zahl beschränken; ihre Füllen dürfen von jedem Geschlechte drei betragen, die alsdann später als Bediente in den adelichen Familien angestellt werden.
Bei den Ehen zeigen die Hauyhnhnms besondere Sorgfalt in der Wahl der Farben, um keine unangenehme Mischung in der Race zu veranlassen. Kraft wird hauptsächlich bei den männlichen und Zierlichkeit bei den weiblichen Individuen geschätzt, jedoch nicht in Betreff der Liebe, sondern um die Entartung der Race zu verhindern; wo nämlich ein Weibchen durch Körperstärke sich auszeichnet, wird der Gatte mit besonderer Rücksicht auf Zierlichkeit gewählt.
Das Hofmachen, die Zärtlichkeiten, die Geschenke, das Nadelgeld und Versorgung sind unbekannte Begriffe.
Das junge Paar kommt zusammen und wird ganz allein deßhalb verbunden, weil dies der Wille seiner Eltern und Verwandten ist. Die jungen Leute betrachten dies als etwas ganz Gewöhnliches und als eine Handlung, welche vernünftigen Wesen natürlich ist. Eine Verletzung der Ehe und eine andere unmoralische Handlung ist jedoch unerhört, und das verheirathete Paar verbringt sein Leben in derselben gegenseitigen Freundschaft und mit demselben Wohlwollen, welches Anderen, die mit ihnen zusammen kommen, erwiesen wird; Eifersucht, Zärtlichkeit, Zänkerei oder Unzufriedenheit sind unbekannte Begriffe.
In Erziehung der Jungen von beiden Geschlechtern ist die Methode der Hauyhnhnms bewunderungswürdig und verdient unsere Nachahmung. Die Füllen dürfen kein Korn, Hafer berühren, mit Ausnahme gewisser Tage, bis sie das achtzehnte Jahr erreicht haben; Milch erhalten sie nur selten; im Sommer grasen sie zwei Stunden des Morgens und dieselbe Zeit am Abend, wobei sie von ihren Eltern beobachtet
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