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Gut genug - Erzählung

Gut genug - Erzählung

Titel: Gut genug - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotbuch-Verlag
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noch nicht sein konnte, waren es leider die Nachbarn. Das heißt, erst war es die Nachbarin. Als das nichts nützte, ihr Mann. Sie hätte gern gewußt, was ich mit dem Kind mache, daß es so schrecklich schreit. Ich habe gesagt, ich trage es im Zimmer umher und erzähle ihm Proust, die ganze verlorene Zeit, aber sie war sicher, daß es davon nicht so schreien müßte und daß ich etwas anderes mit ihm mache. Während sie da war, hat Flo mit dem Schreien aufgehört, aber dann ging sie, und er fing wieder an. Sie haben wegen der Biologie eine erstaunlich kräftige Stimme. Damit man sie nicht verhungern läßt oder sonstwie am Weg vergißt, aber Flo hat keinen Hunger gehabt, weil er getrunken hatte, und ich hatte ihn auch nicht vergessen wollen, und trotzdem hat er geschrien. Ich habe kurz an die inneren Verletzungen denken müssen, die mir die Ärztin vielleicht verschwiegen hat. Andererseits hätte so viel Erbarmen mich überrascht. Eine halbe Stunde nach Mitternacht war der Mann von der Nachbarin da. Wir würden jetzt gerne schlafen. Ich habe gesagt, ich auch. Der Mann hat gesagt, ich muß morgen früh ins Büro, und ich habe versucht, sehr freundlich zu sagen, das tut mir leid, aber der Mann hat meine Freundlichkeit nicht gewollt, sondern gedacht, ich lache ihn aus und mache mich über ihn lustig, weil er ins Büro muß und ich kann gemütlich schlafen. Machen Sie, daß es jetzt aufhört zu schreien. Ich habe gesagt, das würde ich gern, aber ich weiß nicht, wie. Der Mann hat gesagt, Sie sind die Mutter. Es hat furchtbar geklungen, obwohl es im Grunde stimmt, aber es hat so geklungen, daß ich automatisch den Kopf eingezogen und die Schultern hochgezogen habe. Mir ist nicht eingefallen, was ich dazu noch sagen kann, und der Mann von der Nachbarin hat gesagt, das geht schon seit etlichen Tagen. Irgendwas machen Sie falsch und verkehrt. Flo hat bei dem Mann von der Nachbarin weitergeschrien. Ich war mit Proust in der Nähe von Albertine, am Ende von Sodom und Gomorrha, kurz vor der Gefangenen, und hätte gern weitererzählt, weil es mich selbst beruhigte, meine Stimme zu Flos Geschrei noch dazu zu hören und davon wach zu bleiben, aber der Mann von der Nachbarin sagte, wenn das nicht aufhört, ziehen wir ins Hotel. Sie werden Probleme haben. Ich hatte das Gefühl, daß er recht hat. Schließlich ist er gegangen, und beim Gehen hat er gesagt, es würde ihn interessieren, was ich mit dem Kind so mache die ganze Nacht. Ich habe gesagt, wenn es dunkel wird, wacht es auf, ich lasse es trinken, aber es schläft nicht ein, also gehe ich mit ihm durchs Zimmer und erzähle ihm etwas, aber der Mann hat schon nicht mehr wissen wollen, was ich mache, er hat gesagt, er habe den Verdacht, das könnte das staatliche Jugendamt interessieren, was ich mit dem Kind so mache, weil ich die Mutter bin und es offensichtlich nicht schaffe.
    In der Nacht habe ich versucht, mich an etwas zu erinnern, was vor Flos Geburt gewesen war. Einfach an irgend etwas. Hoffmann seniors Zahnlosigkeit, die Doppelblindversuche, Strategien der Weiblichkeit oder die Wasserleiche bei Georg Heym, und wie die Bettwäsche bei meiner Mutter gerochen hatte, einfach bloß irgend etwas, um in der Nacht nicht verlorenzugehen, aber es hat nicht geklappt. Dann bin ich eingeschlafen, und als Flo wieder anfing zu schreien, war es siebzehn Minuten nach vier. Normalerweise steht man nicht um siebzehn Minuten nach vier auf, habe ich gedacht, aber jetzt war ich wach, und was also sollte ich machen. Als er getrunken hatte und ich aufgestanden war, schlief er ein. Es war noch dunkel. Ich habe mich in die Küche gesetzt und gewartet, daß es hell wird und daß die Nachbarn aufwachen und anfangen, ihre Geräusche zu machen. Wenn die Nachbarn aufstehen, geht als erstes zweimal die Klospülung, danach etwas, das ich für eine Kaffeemühle halte, aber ich weiß es nicht so genau, eine Menge Wasser läuft ein, weil sie offenbar morgens baden, und wenn man das Fenster öffnet, kommt ein Geruch von Haarspray und Rasierwasser vorbei, oder was das ist, was sie morgens nehmen, und manchmal hört man, wie sie in der Küche die Stühle über den Boden ziehen, dann setzen sie sich zum Frühstücken hin, und später geht erst der Mann aus dem Haus, du hörst, wie Türen auf- und zugemacht werden, kurz darauf geht die Frau, und die Leute darunter hörst du zusammen gehen, erst die Wohnungstür und kurz darauf die Haustür, es ist hell geworden, und wenn du willst, kannst du jetzt auch gehen,

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