gute freunde - boese freunde
uns wie Süchtige – der Kontakt zur sogenannten normalen Welt wurde immer schwieriger. Wenn das Internet mal ausfiel, flippten wir aus.«
Einmal kam es bei Benedikt auch ohne Stromstörung zum Blackout. »Wir hatten unsere Rechner übers Wochenende wieder einmal in ein Zimmer gestellt, um eine Verzögerung der Kommunikation durch Ventrilo (wie TS – Teamspeak – oder TS2, eine gängige Software zur Kommunikation zwischen Teammitgliedern übers Internet) zu vermeiden. Irgendwann wollte Benjamin schlafen, ich aber nicht. Er sperrte mich aus.« Benedikt bekam einen Wutanfall und trat die Tür ein, die Familie sah fassungslos zu. »Lagerkoller«, erklärt er heute lakonisch. »Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel Zeit aufeinander/ nebeneinander gesessen …«
Die Situation spitzte sich zu. Die Zwillinge lebten wie eine WG in ihrem Elternhaus. Keine Zeit mehr für Gespräche, gemeinsame Fernsehabende oder sonstige Aktivitäten: »Wir hatten immer Zeitdruck – die Freunde in der virtuellen Welt warteten ja auf uns. Wenn wir nicht an den PC kamen, konnten die ohne uns das Spiel ja nicht starten!«
Die reale Welt trat in den Hintergrund, die Zeiten verschoben sich, vor allem an den Wochenenden. 12 Uhr Mittagessen? 19 Uhr Abendessen? Wer dachte an so was während einer LAN? Dafür ging es dann um drei Uhr in der Früh schnell zu McDonalds. |129| Oder der Pizza-Service wurde bestellt – Hauptsache, das Essen konnte am Rechner eingenommen werden.
Schule
»Wir haben uns durchs Gymnasium geschmuggelt, mit Dreiern, Vierern und Fünfern. Ab der achten Klasse kriegte Benedikt jedes Jahr einen blauen Brief, Benjamin bekam das irgendwie besser geregelt. In der Nacht vor dem Abitur hat Benedikt noch durchgespielt – gelernt haben wir so gut wie gar nicht zu diesem Zeitpunkt. Da kam zum Suchtverhalten auch noch eine klassische Vermeidungsstragie.
Wir hatten nie den Eindruck, dass die Schule wichtig war. Wichtig war nur, was daheim am PC passierte – nämlich das, was wir wollten. Wir spielten ganz oben in der Liga mit, man kannte uns von den LANs, wir waren erfolgreich und anerkannt. Wir kamen aus der Schule, drückten auf den Knopf und waren angekommen in unserem wirklichen Zuhause, in den von uns selbst gestalteten Netzwerken. Was am Vormittag im Unterricht passiert war – wen interessierte das denn am Nachmittag noch? Die Spielwelt wurde zu unserer wichtigeren Welt. In der Schule sprachen wir zwar auch viel mit den anderen über Computerspiele, Taktiken oder Maps, aber eigentlich war es verlorene Zeit. Zeit, in der wir nicht spielen durften.
Unser Gymnasium bekam die öffentlich immer intensiver geführte Debatte über pädagogischen Internet-Gebrauch natürlich auch mit und wollte den Trend nicht verpassen. Also wurden Internet-Räume eingerichtet mit Computern, die durch Überwachungstools kontrolliert wurden. Aber die Lehrer hatten so wenig Ahnung! Innerhalb kürzester Zeit knackten wir die Programme und spielten mitten in der Schule, direkt unter den Augen der Kontrolleure, die verbotenen Spiele. Die Aufsicht hat nichts davon mitgekriegt.«
Community
»Man lernt im Netz wahnsinnig schnell wahnsinnig viele Leute kennen. 90 Prozent fallen durchs Raster, nur ein paar bleiben hängen, die kennt man dann für immer. Wir haben in den sechs Jahren Tausende von Spielern getroffen, virtuell oder auf LA N-Partys . Mit fünf von denen haben wir heute noch Kontakt, die besuchen uns jedes Jahr zum Oktoberfest.
In den Jahren von 15 bis 19 haben wir uns keinen Meter zu viel bewegt – Schule, Elternhaus, hin und zurück, das war’s. Nur zu LANs sind wir gegangen, um gegen die anderen zu spielen. Das ist immer eine ganz besondere Atmosphäre. Es gibt offizielle LANs und private. LANs vor Ort, die eher langweilig waren, und LANs, zu denen die Spieler aus allen Teilen der Republik angereist kamen. Oft haben wir bis zur völligen Erschöpfung gespielt, 36 Stunden, ohne zu essen.
Was gerade während der Pubertät sehr wichtig ist: Im Netz zählt nur das, was man gerade macht. Von uns sagte man: Krass, die beiden spielen wirklich ganz oben mit. Wir hatten uns ein Image kreiert, mit dem wir sehr zufrieden waren – während der Pubertät ist ja so was besonders wichtig. Wenn man sich dann |131| traf, war unser Anblick für die anderen ein Schock: Wir sahen aus wie zehn, denn wir waren auch mit 15, 16 noch sehr klein. Wenn wir ihnen dann aber zeigten, was wir draufhatten, schlug deren Erstaunen oft in Wut um.
Wir
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