gute freunde - boese freunde
allein ein Umfeld aufbauen – und auf einmal hatte ich |134| das Gefühl, am PC Zeit zu verschwenden. Ich wollte zurück ins real life, wollte echte Kontakte aufbauen, bin in den Sportverein gegangen und habe abends noch Kung Fu belegt – das alles hatte plötzlich den größeren Reiz für mich. Die Freunde aus dem Netz fehlten mir nicht wirklich. Ich dachte mir, Benjamin hält ja den Kontakt, da kann ich immer wieder einsteigen.«
Aber dann kam der ungewöhnlich sonnige Sommer 2005, die herrlichen Monate nach dem Abitur: Schwimmen, Sonnen, Natur. Dann die Vorbereitungen auf das Studium und der Umzug zurück nach München, wo die Bennis die R L-Freunde (RL = real life) von früher wiedertrafen. Das Leben war auf einmal richtig wunderbar.
Benedikt: »Das Abi war geschafft, wir schauten plötzlich über den Tellerrand und sahen neue Horizonte. Ich hatte keinen Bock mehr, im Keller zu sitzen, während draußen die Schiffe vorbeizogen.«
Benjamin: »Wir sind ins Kino gegangen, haben an den Seen gegrillt, sind um Mitternacht durch Schwabing gekurvt auf der Suche nach Eisdielen – wir machten all das, was andere erleben, wenn sie 15 sind. Wir vergaßen das Internet. Mit all den Freunden, die für uns sechs Jahre lang so wichtig gewesen waren.«
|135| Und umgekehrt, auch die Freunde aus der virtuellen Welt vergaßen die Bennis. Zum Teil kehrten auch sie ins real life zurück, wie die Zwillinge im Laufe der Zeit immer mal wieder erfuhren – auch diese Ex-Nerds begannen ihre Ausbildungen und beendeten das Parallelleben. Zurück im Netz blieben die heavy user.
Ende
»Als es Herbst wurde, nahmen wir wie alle anderen den Studenten-Alltag auf und kommunizierten ohne Probleme mit der normalen Welt.
Peinlich, manchmal unterliefen uns noch Fehler, weil wir in unseren Chatter Slang zurückfielen. Wenn wir zum Beispiel ›lol‹ sagten, sobald einer einen Witz machte (lol = laugh out loud, also: haha) und die anderen dann ganz verdutzt schauten. Oder wenn wir auf die Frage, ob wir mit in die Disco gehen, mit ›11elf‹ antworteten (= klar! Unbedingt! – entstanden auf der P C-Tastatur : viermal die elf für eine Reihe von Ausrufungszeichen, für die die Shift-Taste nicht gedrückt worden war).
Wir begannen mit unserem Studium und saßen wieder stundenlang am PC, aber diesmal für die Uni. Die Abi-Noten waren nicht super, sie wären ohne unsere Online-Sucht ganz bestimmt besser gewesen, aber was soll’s. Nicht zu ändern.
Wir werden Lehrer. Wir werden mit Schülern arbeiten, die möglicherweise die gleichen Probleme haben wie wir damals. Vielleicht kommen sie ja damit zu uns, dann könnten wir ihnen sagen, wir waren selber mal in der Situation. Wir kennen uns aus.«
[ Menü ]
elke reichart
Die Bennis: Ein Dreiteiler
|137| Teil Zwei: Die Schwester der Bennis
Ich habe vier Geschwister , drei jüngere Brüder, eine ältere Schwester. Die Zwillinge Benjamin und Benedikt sind die jüngsten, uns trennen sieben Jahre. Für sie hatte ich immer eine Art Beschützerrolle. Ich wickelte sie, betreute sie, sang sie in den Schlaf. Als sie in den Kindergarten gingen, organisierte ich ihre Geburtstage: Topfschlagen, »heiße Bonbons«, Schokoladenessen … Wir hatten viel Spaß miteinander. Als sie dann selbst sieben Jahre alt waren und fragten, was denn »schwul« bedeute und meine Eltern sich in die üblichen Antworten flüchteten (»du meinst wohl schwül …«), da erzählte ich ihnen alles, wirklich ALLES, und wohl viel mehr, als die Kleinen überhaupt begreifen konnten.
Ich hatte in meiner Jugend viele Schwierigkeiten – vor allem mit meiner Mutter, immer ging es um Politik, um Religion und das Leben an sich. Ich kämpfte Tag für Tag – nicht nur meinen eigenen Ablösekampf –, sondern für meine Brüder gleich mit, sie sollten nicht eins-zu-eins annehmen, was ihnen daheim vorgelebt wurde. Irgendwann kapitulierte ich, hungerte mich schier in die Knochigkeit – das war wohl der Zeitpunkt, als ich die Bennis aus den Augen verlor. Als ich mein Gleichgewicht wiederfand und wieder zunahm, zog ich aus. Benjamins trauriger Kommentar: »Du verlässt das sinkende Schiff …«
»Wir wollen nur euer Bestes« – heute glaube ich das meinen |138| Eltern. Ich habe selbst eine Tochter, arbeite in einer Sozialberatung und versuche zu funktionieren. Alles so gut wie möglich zu machen. Mehr denn je spüre ich meine eigenen Grenzen. Ich habe heute mehr Verständnis für meine Eltern, die wohl oft total überfordert waren. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher