Gute Leute: Roman (German Edition)
verlassen und die Mutter in seine Obhut gegeben, um sie jetzt, acht Jahre später, auf dem Sterbelager wiederzufinden. Sicher war sie überzeugt, dass, wäre sie hier geblieben, es der Mutter besser ergangen wäre. Trotzdem schien sie noch immer das Bedürfnis zu verspüren, die Frau in Schutz zu nehmen, die sie vor die Tür gesetzt hatte. Vielleicht verfügte diese Frau Stein ja wirklich über ein seltenes Maß an Loyalität, oder vielleicht weigerte sie sich auch einfach nur, von liebgewonnenen Gewohnheiten zu lassen.
»Frau Stein«, rief er und setzte ein zwangloses Lächeln auf. »Haben Sie schon gehört, dass ich zum geschäftsführenden Teilhaber bei Milton ernannt worden bin und zum Leiter der Abteilung ›Deutsche Kaufpsychologie‹, inklusive der Niederlassungen in Paris, Warschau und Rom? Diese Filialen sind meine Erfindung. Und jetzt haben diese Franzmänner plötzlich eigene Ideen. Um Teil des Systems von Milton zu sein, sind sie doch verpflichtet, unsere Arbeitsmethoden zu übernehmen, nicht wahr? … Sie werden mir sicher beipflichten, dass der Wunsch nach einer schönen Definition ohne Inhalt der eigentliche Ausdruck der französischen Seele ist, dieser Hang zum Modischen um jeden Preis.«
»Ich kaufe keine Sachen aus der Werbung«, erwiderte Frau Stein.
»Das hätte ich mir denken können, selbstredend.« Thomas betonte genüsslich jede einzelne Silbe. Immer schon hatte er es genossen, in ihrer Gesellschaft hochtrabende Reden zu halten. Das war eines der sonderbaren Fundamente ihrer Beziehung: Sie tat so, als weckte sein Schwadronieren Abscheu bei ihr, dennoch blieb sie, um ihm Gehör zu schenken. Frau Stein hatte eine Seite an sich, die niemals müde wurde, über seine Geschichten zu staunen, als glaubte sie in Wahrheit nicht, dass ein Mensch wie er tatsächlich existierte.
»Alle unsere Untersuchungen haben ergeben, dass in der Arbeiterschicht in Deutschland eine Aversion gegen Werbung herrscht, und die Gründe dafür sind klar. Die Werbung zielt auf Menschen mit Geld oder auf Menschen, die glauben, dass sie eines Tages Geld haben werden, oder auf solche, die so tun, als hätten sie Geld.«
»Frau Heiselberg hat darum gebeten, dass ich einige Tage bei ihr bleibe«, verkündete sie unversehens.
»Sie phantasiert. Das ist vollkommen unmöglich, und Sie wissen das«, stieß er aufgebracht hervor. Wie sehr er Menschen verabscheute, die sich den einfachsten Tatsachen verschlossen. Jetzt fiel ihm ein, dass er sich in Gegenwart von Fremden vor zu extremen Schwankungen in seinem Verhalten hüten musste; sonst verloren sie noch den Glauben an seine Galanterie. Aber, tröstete er sich, es war ja nur Frau Stein.
»Ich werde mich nicht auf der Straße blicken lassen«, sagte sie.
»Das ändert nichts. Die Leute reden. Irgendjemand hat vielleicht gesehen, wie Sie die Treppe hinaufgestiegen sind, und wird Sie nicht wieder herunterkommen sehen. Sie sollten umgehend das Haus verlassen.«
»Ihre Frau Mutter wünscht meine Hilfe. Und ich beabsichtige, ihrem Wunsch zu entsprechen«, beharrte sie.
»Frau Stein, das steht überhaupt nicht zur Debatte! Ich habe keine Zeit, hier herumzustehen und mit Ihnen zu streiten. Außerdem werden Ihre Handtücher gerade warm, also packen Sie die bitte meiner Mutter auf die Stirn, und dann müssen Sie gehen. Ich habe es eilig, in zwei Stunden, heute Abend um sieben, treffen wir uns mit den Leuten von Daimler-Benz …«
Aus dem Schlafzimmer hörte er seine Mutter nach ihm rufen und eilte zu ihr. »Thomas«, flüsterte sie und richtete sich unter großer Anstrengung ein wenig auf. »Thomas, ich möchte, dass Frau Stein ein paar Tage hier bleibt …«
»Mutter, das ist unmöglich, diese Frau bringt uns in Gefahr.«
»Thomas, mein Lieber, ich befinde mich schon seit geraumer Zeit in Gefahr«, erwiderte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er ergriff sie und streichelte ihre knochigen Finger. Und wieder stieg eine Kindheitserinnerung in ihm auf: Als Halbwüchsiger steht er vor dem Spiegel in ihrem Zimmer, immer hatte er sich von dem holzgefassten Spiegel und dem weichen, schmeichelnden Licht in diesem Zimmer verführen lassen. Seine Mutter liegt auf ihrem Bett und Frau Stein sitzt auf einem Stuhl daneben. Sie reden über ihn, als wäre er gar nicht da: »Den ganzen Tag steht der Junge vor dem Spiegel und macht die Posen von irgendwelchen Flegeln aus dem Kino nach. Alles haben wir ihm gegeben! Die Kultur wurde ihm zu Füßen gelegt. Philosophen und Musiker haben ihn
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