Gute Leute: Roman (German Edition)
Fächern habest du dich schwer getan, und er habe dir geholfen, dich auf die Prüfungen vorzubereiten. Stimmt es, dass er in Geschichte und Literatur einer der drei besten Schüler in eurer Klasse war? Beim Tee hat er mir dann haarklein erzählt, wie ihr euch immer in die Hotels geschlichen habt, du warst ein russischer Prinz, den die Bolschewisten vertrieben hatten, und er dein persönlicher Diener. Liebster! Wo hast du diese Keckheit die ganze Zeit verborgen gehalten? Wenn du nach Berlin zurückkehrst, werden wir beide das auch machen, ich werde deine Prinzessin Katharina sein!
Danach hat er noch erzählt, deine Mutter sei gegen eure Freundschaft gewesen und sie habe ihn beschuldigt, ihren teuren Sohn verdorben zu haben. Das habe ihn tief getroffen. Anfangs dachte ich, dass er mit alten Kränkungen kokettiert, aber dann merkte ich, wie sehr die Demütigung ihn geschmerzt haben muss. Der Ärmste.
Leningrad – Sotschi, Winter 1939/40
Die letzten Lichter der Stadt zogen in Orangetönen als traurige Schleppen über die Fenster des Zuges. Warum drückte sie ihr Gesicht an die Scheibe wie eine Bäuerin, deren Welt dort endete, wo die Kartoffelfelder aufhörten? Weil sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr aus der Stadt herausgekommen war? Dabei hatte sie sich schon als kleines Mädchen geschworen, vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag durch die Straßen von Paris und Berlin zu tanzen. Wenigstens durch Paris.
Während ihr Blick durch die Dunkelheit streifte, ließ ihre Erinnerung die verschneiten Küsten kleiner Inseln aufscheinen, deren Namen sie früher so gerne über die Zunge hatte rollen lassen – Aptekarski, Krestowski. Auf einer hatte ihr Großvater eine Datscha besessen. »Sie war nicht eben feudal«, wie ihre Mutter gestand, »aber sehr praktisch.« Diese Datscha war ihnen 1912 abgesprochen worden, als der Großvater aus der Ochrana ausschied. »Wir hatten großes Glück, dass wir, als die Bolschewiken St. Petersburg einnahmen, außer unserer Wohnung nichts mehr hatten«, pflegte ihr Großvater voller Sarkasmus zu erzählen.
Ihr Haar kitzelte sie im Nacken. Sie fasste es mit der rechten Hand zusammen und drehte es zu einem Knoten. Jetzt spürte sie am Hals ein sonderbares Gefühl von Nacktheit. Und dann berührten die Finger ihres Mannes, noch fettig von den Piroschki, die er eben verspeist hatte, ihre Hand mit dem weißen Verband. Jedes Mal, wenn er dieser Hand zu nahe kam, packte sie eine Wut, die er nicht verstehen konnte. Es schien, als wäre der Verband in ihren Augen zu etwas Heiligem geworden. Einmal hatte sie ihn mit der Linken geschlagen und ihn angebrüllt, er dürfe ihren Verband nie wieder berühren.
Es lebte sich ein wenig sonderbar, wenn ein derart kleines Körperteil die meisten Handlungen bestimmte: ein Kleid an- und ausziehen, einen Gegenstand hochheben, Schreiben, Blättern in einem Buch und vor allem jeden Handgriff, der mit Wasser verbunden war. In den ersten Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie sich allem Drängen und allen Erklärungen zum Trotz geweigert, Wasser an sich heranzulassen. Völlig ratlos hatte Maxim sich überwunden und Stepan Kristoporowitsch zu ihnen in die Wohnung gebeten. Stepan hatte lange auf sie eingeredet und ihr gesagt, wie sehr sie in der Abteilung ihre Rückkehr herbeisehnten. Danach hatte er sie mit ein wenig Tratsch über neue Direktiven des Kremls zur morgendlichen Körperertüchtigung amüsiert. Die Sorge um das Wohl der Werktätigen sei zu einer staatstragenden Angelegenheit geworden. Ihn, zum Beispiel, habe man für einen Kurs in fernöstlicher Kampfkunst, genannt Jiu Jitsu, angemeldet. Der neue Chef des NKWD, Lawrenti Pawlowitsch Berija, liebe das. Nach Stjopas Besuch hatte sie Maxim erlaubt, sie mit kaltem Wasser zu waschen, nachdem sie die Hand mit mehreren Lagen Tuch umwickelt hatten. Von dem Samowar hielt sie sich fern, und wann immer sie Wasser sieden oder auch nur einen Menschen Tee trinken sah, brodelten in ihrer Phantasie Bilder, in denen man sie verbrühte. Ja, es hatte Tage gegeben, an denen ihr sogar der Regen kochend heiß vorkam.
Der Zug verlangsamte seine Fahrt, im Waggon roch es nach billigem Tabak und unter der Decke hing dichter Zigarettenqualm. Sie drängte sich zwischen den schlafenden Fahrgästen hindurch, um Luft zu schnappen. Im hinteren Teil des Waggons saßen zwei junge Frauen und plauderten. Ihre Beine, in bis über die Knie hochgezogenen weißen Strümpfen, hatten sie auf dem Sitz gegenüber
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