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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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ausgestreckt. Jetzt warfen sie ihr einen unverschämten Blick zu, begleitet von Gekicher. Einen Augenblick lang war sie versucht, sich neben sie zu setzen, mit ihnen zu schwatzen, um, und sei es auch nur für einen Moment, den Abgrund zu überbrücken, der sich in letzter Zeit zwischen jungen Frauen wie diesen und ihr, einer verheirateten Frau und Mitarbeiterin des NKWD, aufgetan hatte.
    Zwei Soldaten beschwerten sich über die verschlossene Toilette. Sie boten ihr eine Zigarette an und fragten sie, wo sie arbeite. Die Zigarette lehnte sie ab und stellte die Gegenfrage, wo sie stationiert seien. Beide waren Militärärzte, der eine hatte im Sommer in Chalchin Gol an der japanischen Front gekämpft und war an der Hand verwundet worden.
    »Er ist nach zwei Stunden Krieg verwundet worden«, lachte sein Kamerad, »und hat dann einen Monat im Lazarett gelegen und es sich gut gehen lassen.«
    Den ganzen Tag über blitzten in ihrer Erinnerung Bilder von ihrer ersten Fahrt nach Moskau auf, zerbröckelten, setzten sich wieder zusammen, zerfielen abermals zu Staubkörnern und wehten sie an wie feiner Sand.
    Sie ist sechzehn, es ist spät in der Nacht, sie schiebt ihre Hand in die von Papa. Sie nähern sich dem Bahngleis, sie bekommt eine Gänsehaut in Erwartung des großen Augenblicks – ihre erste Fahrt im »Krasnaja Strela«, dem »Roten Pfeil«, dem besten Zug der Welt. In der Schule haben sie eine ganze Stunde auf die Leistung der mit der Planung betrauten Ingenieure verwandt, gefolgt von dummen Rechenspielchen: Sascha fährt mit dem »Krasnaja Strela«. Ulla Kleiß fährt mit dem neuen deutschen Schnellzug, dem »Fliegenden Hamburger«. Wegen des Reibungswiderstands des deutschen Schienenstrangs kommt es zu einer Verlangsamung von vier Prozent, während auf den russischen Gleisen die Verlangsamung nur zwei Prozent beträgt. (Dabei wollte sie besonders spitzfindig sein und präsentierte eine Berechnung, nach welcher der deutsche Zug als erster einträfe, worauf die Jungen ihr in der Pause Prügel androhten. In Wahrheit erfuhr sie von Papa, dass der »Fliegende Hamburger« den »Roten Pfeil« weit hinter sich lassen würde.)
    Papa setzt den Koffer auf dem Bahnsteig ab und schüttelt seine Hand, die vom Tragen ganz rot geworden ist. Sie betrachtet die Hand, staunt, wie klein sie ist, seine und ihre Finger haben beinahe dieselbe Länge. In ihrer Vorstellung quält sie sich noch immer mit Schreckensbildern, die den Reiseplan im allerletzten Moment zunichte machen – Mama wird krank, irgendetwas, das keinen Aufschub duldet, ereignet sich im Institut, sie muss sich auf dem Bahnsteig übergeben. In der Zwischenzeit begeistert Papa sich für den Zug: einer der schnellsten Züge auf dem Kontinent! Riesig und pompös sieht er aus, die ganze Stadt könnte man in seinen Waggons unterbringen. Papa brüstet sich mal wieder mit der sowjetischen Industrie, die in Staunen erweckendem Tempo zum Westen aufschließt: »Wir haben einen hohen Preis gezahlt, kein Zweifel, aber jetzt sind die Erfolge gewaltig.«
    Soldaten in langen Militärmänteln mit himbeerfarbenen Kragenspiegeln kontrollieren ihre Ausweise, und Papa zeigt ihnen die Vollmachten. Jetzt passiert es, denkt Sascha erschrocken, jetzt werden sie uns nach Hause zurückschicken. Aber die Soldaten sind im Gegenteil sehr nett und wünschen ihnen eine gute Fahrt.
    Als die Soldaten andere Fahrgäste kontrollieren, sagt Sascha zu Papa, »Ich möchte ein Bier«, und erwartet, dass er ihr entrüstet vorhält: Kleine Mädchen trinken kein Bier. Aber er wird sich mit der Tatsache anfreunden müssen, dass sie sehr wohl schon einmal Bier getrunken hat und trotzdem alles in bester Ordnung ist.
    Er erwidert zerstreut: »Bier? Dafür ist jetzt keine Zeit.«
    Sie ist enttäuscht, und ein verwegener Gedanke kommt ihr, offenbar hat das eben noch nicht genügt, vielleicht ist Biertrinken wirklich eine Lappalie, und um ein Haar gibt sie der Versuchung nach, ihm vom gestrigen Tag zu erzählen, als Maxim Podolski und sie nackt im Schlafzimmer seiner Eltern gelegen haben. Durch das Fenster wehte eine warme Brise herein und die Sonne färbte seinen muskulösen Körper golden. Doch sie würde sowieso gleich darauf einen Rückzieher machen, hör zu, Papa, wir wollten keinen Skandal anzetteln, wollten uns nur ausruhen, und aus den Wohnungen der Nachbarn ist das Bett gar nicht zu sehen, das hat Maxim überprüft. Außerdem, wir waren zwar nackt, aber ich habe ihm nur erlaubt, die obere Hälfte meines

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