Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
innerhalb des Dritten Reiches avanciert war, überraschte Thomas nicht: Jeder neue Apparat auf der Welt, und sei es der Herrschaftsapparat schwachköpfiger Schläger, legte sich mit der Zeit seinen eigenen Jargon, eigene Riten und Kürzel zu, die Beleg dafür sein sollten, dass er Akzeptanz gefunden hatte, auch wenn dies auf den ersten Blick unglaublich erschien. Es gab keine Kreatur, kein Geschöpf, und sei es das furchterregendste, das nicht zu einem Teil der tagtäglichen Routine werden konnte. War nicht die Familie die verabscheuenswerteste Institution überhaupt? Und dennoch gab es nur wenige, die an ihr zweifelten.
    Wie zu erwarten, lehnte Weller derlei Ansichten rundheraus ab und bezeichnete diejenigen, die sie vertraten, als »degenerierte und kranke Menschen«. Seiner Meinung nach war der kometenhafte Aufstieg des Modells das Ergebnis unverdrossener Arbeit und klugen Manövrierens.
    Ungeachtet des erhöhten Arbeitsaufkommens änderte Weller seine Angewohnheiten nicht, zu denen die Lektüre sämtlicher Zeitungen gehörte, die im Büro eintrafen, und das eineinhalbstündige Mittagessen. Zuweilen verschrieb er sich Aufgaben, die nicht das Geringste mit seiner Funktion zu tun hatten und die er aus rein persönlichem Interesse und dem ehrlichen Wunsch erfüllte, seinem Staat zu dienen. Als Reaktion auf die beißende Kritik, die das verhasste Großbritannien an den deutschen Luftangriffen gegen Polen vorbrachte, verwandte er eine ganze Woche darauf, eine Liste aller Orte zu erstellen, an denen die Royal Air Force je Bomben abgeworfen und Zivilisten getötet hatte. Wie von einem Dämon besessen lief er durchs Büro und murmelte: »In Indien – ohne Ende, selbstverständlich. Und im Jemen, in Palästina, dem Irak. Und in Afrika – in Uganda und in Kenia, und nirgendwo waren sie mit einer ähnlichen Bedrohung konfrontiert, wie Polen sie für uns darstellte. Woher also nehmen sie diese Impertinenz?«
    Obgleich ein Meister der Vergeudung von Arbeitszeit, beklagte sich Weller beständig über die Last der Aufgaben. Thomas hingegen mochte Tage, die durch das Ungetüm der fieberhaften Arbeit verschlungen wurden und ihm keine Zeit zum Nachdenken ließen. Erst wenn er nachts im Bett lag und die Musik und das Lachen aus den Wohnungen der jungen Offiziere hörte, stellte er sich ein weißes, leeres Blatt und darauf einen Brief an Klarissa vor.
    »In meiner Kindheit hoffte ich, genau wie U., ein bedeutender Mann zu werden. Ihn faszinierten die Naturwissenschaften und die moderne Ingenieurskunst, und mich, der ich ein Sohn der Generation nach ihm bin, fasziniert die Welt der Waren und des Handels. Von frühester Jugend an habe ich mich nach ihr gesehnt, das war die Welt, die ich kennenlernte und studierte. Und bis zuletzt hatte ich keinen Grund, darin einen Fehler zu sehen. Im Gegenteil, es schien, als wehte der Zeitgeist in diese Richtung, und selbst Lenin, der große Kommunist, wies seine Landsleute an: Lernt Handel zu treiben. In gewissem Sinne sind wir, U. und ich, in ein Momentum geraten, in dem die Gewissheiten unseres Lebens kollabierten. Beide waren wir gezwungen, wieder bei Null anzufangen. Uns neue Einsichten zu erwerben …«
    Daran war etwas Düsteres und Erheiterndes zugleich: Obwohl er Klarissa nur in seiner Phantasie schrieb und kein belastendes Blatt Papier hinterließ, bezeichnete er Ulrich, Musils Helden, nur mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens. Selbst die Phantasie haben wir einer Lektion in Sachen Vorsicht unterzogen, nicht einmal dort werden wir den Helden eines Buches, dessen Verbreitung verboten ist, namentlich erwähnen.
    In einer anderen Nacht schrieb er in seiner Phantasie: »Meine Unfähigkeit, eine Liebe in die Tat umzusetzen, ist ein Fluch, der auf mir lastet. In letzter Zeit habe ich begriffen, dass die Therapeutin recht hatte, die sagte, wenn ich nicht entschlossen dagegen angehe (selbstverständlich benutzte sie nicht den Ausdruck ›Fluch‹, sondern sprach von einer ›Neigung‹), werde ich auf immer allein bleiben. Vielleicht steigern diese Nächte in Warschau die panische Angst vor der Einsamkeit, die immer schon in mir angelegt gewesen ist. Plötzlich wühlt ein Verlangen meine Seele auf, und dann denke ich an dich, meine Teuerste, und an den Tag, an dem du vom Kamin die Karabinerpatronen entfernt hast, die mein Vater auf dem Schlachtfeld aufgesammelt hatte, und auch sein Eisernes Kreuz und das Bild aus dem Wald von Aragon bei Sonnenaufgang: neun Halbwüchsige in Uniform und der

Weitere Kostenlose Bücher