Gute Leute: Roman (German Edition)
Zeit lasse ich – im geheimen und mit aller gebotenen Vorsicht – nichts unversucht, um Ihnen eine Antwort geben zu können. Ich sage nur soviel: Einer der beiden dient in der 4. Armee, die in Westweißrussland stationiert ist, Sie werden ihn dort treffen.«
»Stjopa«, flüsterte sie und lehnte ihre Wange an seine Schulter.
»Seien Sie unbesorgt«, seine Stimme klang dumpf. »Im Verhör werde ich Ihren Namen nicht nennen, ich geben Ihnen mein Ehrenwort.«
Was für ein Mensch musste sie in seinen Augen sein, wenn er dachte, dass es das war, was sie jetzt belastete? Und vielleicht hatte er sogar recht? Wie sollte man das wissen? Sie hastete hinter ihm den Gang entlang.
Stjopa-Podolski brüllte von der Bühne: »Ihr Narren, messt euch mit mir an einem echten Poem!.. In meinem Herzen brennt heiß die Liebe des Proletariats / unsere böswilligen Feinde werd mit meinen Händen ich umfassen / werd wie eine Giftschlange sie zerquetschen / nur, Kameraden, bitte: Meiner Schwester Rente …«
Erst als sie wieder im Saal standen und ihrem Gatten applaudierten und Stjopa, mit lachender und begeisterter Miene, zwei Finger in den Mund steckte und einen ohrenbetäubenden Pfiff ausstieß, wurde Sascha die Bedeutung seiner Worte klar: Sie würde Wlada oder Kolja treffen können.
Warschau, Sommer 1940
In letzter Zeit bin ich reichlich sentimental geworden, überlegte Thomas.
Dabei saß er beim Frühstück im Hotel Bristol in Gesellschaft gestandener Männer. Eine freundschaftliche Atmosphäre herrschte am Tisch, und alle, die dort versammelt waren, insbesondere Albert Kresling, der gerade erst auf einen leitenden Posten bei der »Haupttreuhandstelle Ost« berufen worden war und als Görings Mann in Polen galt, zeigten großes Interesse an ihm und seiner Arbeit. Und während noch alle sein Modell priesen – wo war er? Kritzelte bei sich einige Zeilen an Klarissa hin:
»Liebste, dein letzter Brief hat mich bedrückt, und seither ist bereits mehr als ein Monat verstrichen. Wolltest du mir zu verstehen geben, ich bemühte mich nicht genug, dich zu sehen? Es gibt nichts, wonach mich mehr verlangt. Doch ich habe dir bereits erklärt, warum die Idee, mich hier in Warschau zu besuchen, mir ungeeignet vorkommt: Das mir auferlegte Arbeitspensum würde uns kaum Zeit für gemeinsame Unternehmungen lassen. Aber ich schwöre, im September Urlaub zu nehmen. Wir werden fahren, wohin du willst, die ganze Welt lege ich dir zu Füßen.«
Trunken vor Licht stand Thomas jetzt auf dem Platz vor dem Hotel und betrachtete die beiden Bäume. Beim Frühstück auf der Terrasse im zweiten Stock hatte Weller auf diese Bäume gedeutet, die aussahen, als ob sie sich aneinander lehnten, und geflüstert: »Schau, Thomas, sie sind genau wie wir.«
Diese Bemerkung sollte ihn versöhnlich stimmen. Die ganze Woche hatte eine gewisse Spannung zwischen ihnen geherrscht wegen der Mauer um die Juden. Thomas war gegen ihre Errichtung, insbesondere im Stadtzentrum, und behauptete, ein derart großes Ghetto werde mehr kosten, als es nütze, sei geschaffen, die Wirtschaft zu belasten, den Verkehr zu behindern und letztlich Warschau zu erdrosseln. Außerdem sei zu befürchten, dass es »Resignation und radikale Aktionen hervorrufe«, wie er als Antwort auf eine Anfrage des Distriktgouverneurs schrieb. Weller war anderer Meinung gewesen und hatte dem Gouverneur ein eigenes Memorandum zukommen lassen: »Die wirtschaftlichen Kalkulationen erscheinen mir nicht hinreichend präzise, da Herr Heiselberg die Bedürfnisse der Juden veranschlagt, als wären sie Arier. Doch wesentlicher noch: Die Idee eines von einer Mauer umfriedeten Ghettos ist nicht neu und hat sich bereits in der Vergangenheit als höchst nutzbringend erwiesen. Auch im fünfzehnten Jahrhundert, als beschlossen wurde, in Frankfurt eine Mauer um die Häuser der Juden zu errichten, waren skeptische Stimmen zu vernehmen. Aber Friedrich III. blieb bei seinem Entschluss, die Mauer wurde errichtet, die Juden bekamen ihre eigene ›Judengasse‹, und dieses Arrangement sollte gute dreihundert Jahre Bestand haben.« Weller hätte natürlich auch das bereits in Lodz eingerichtete Ghetto anführen können, doch wie immer zog er es vor, seinen Standpunkt mit einem an den Haaren herbeigezogenen historischen Beispiel auszuschmücken.
Thomas antwortete Weller in einer scharf formulierten Stellungnahme: »In Frankfurt am Main gab es damals etwa zweihundert Juden, für die ein Sträßchen oder zwei
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