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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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ihr mich erschießen lassen. Plötzlich befiel sie eine verzweifelte Furcht: Vielleicht hatte sie den richtigen Zeitpunkt schon verpasst, vielleicht würde Stjopa ihr schon nicht mehr helfen können?
    Er entschuldigte sich und bedeutete einem der Kellner, er möge sich mit seinem Tablett voller Wodka zu ihnen bemühen. Zwei alte Sekretärinnen von Abteilung 3 näherten sich ihr. Sie erinnerte sich nicht an ihre Namen, aber die beiden hatten sie immer mit mitleidiger Zuneigung behandelt und sie »Sirota« genannt, »Waisenmädchen«. Die beiden alten Schachteln ergriffen ihre Hände: »Sirota, wir sind so glücklich, dass sie die Kanaille erschossen haben, die dich verbrüht hat.«
    »Werte Genossinnen«, schalt Sascha sie liebevoll. »Ich schlage vor, ihr hört auf zu trinken.«
    Stjopa kam zu ihr zurück. Die beiden Alten rührten sich nicht. »Genossin Weißberg«, er verbeugte sich leicht und reichte ihr mit theatralischer Geste die Hand, »da Ihr Gatte sich hinter den Kulissen darauf vorbereitet, meine Rolle bereits im ersten Aufzug zu übernehmen, erlauben Sie mir, den vom Glück verwöhnten Schurken zu spielen.«
    Während Stjopa und sie sich von den beiden entfernten, warf sie einen schnellen Blick zurück. Die Augen der beiden fingen ihn ein, als wollten sie sehen, ob ihre Botschaft angekommen war. Hatte Stjopa die beiden alten Schachteln entsandt, um sie zu verleiten, über ihn herzuziehen? Hegte er etwa einen Verdacht gegen sie?
    Sie standen auf der Tanzfläche. Bekannte Gesichter umkreisten sie: Natalja Perikowa in einem schönen Kleid und mit Kranz im Haar warf ihr einen Kuss durch die Luft zu, Bekannte winkten ihr zu, riefen ihren Namen und machten ihr Komplimente, Hände strichen über ihre Schultern, und Stjopa breitete die Arme aus, als wollte er betonen, dass sie an die Arbeit und unter seine schützenden Fittiche zurückgekehrt war.
    Er legte eine Hand um ihre Hüfte. Seine Berührung war flattrig und vorsichtig, und in seinen Augen stand fiebrige Erwartung. Entbehrte das Gerücht, er sei in sie verliebt, tatsächlich jeder Grundlage?
    »Stjopa«, schalt sie ihn, »jetzt heißt es tanzen.« Und mit ihrer Linken drückte sie seine Hand fester um ihre Hüfte.
    Es war, als erwachte er jäh, und seine vertraute Überheblichkeit kehrte zurück. In einer plötzlichen Bewegung zog er sie an sich. Er war ein geübter und sogar etwas arroganter Tänzer und führte sie überraschend geschickt. Sie spürte, dass er ihren Körper mit Kraft und Geschmeidigkeit erfüllte – die Zwillinge hatten sich immer beklagt, dass sie, wenn sie die Beine um ihren Bauch geschlungen hatte, nach Kräften schreien und kratzen konnten, sie kamen nicht frei. Stjopas Bewegungen waren schnell, aber nicht überhastet, und verliehen dem Tanz eine Art Schwindel, der die Welt ringsum ausblendete. Er übertrieb auch nicht wie jene Stenze, die einen hin und her schwenkten, bis man befürchten musste, mit ihnen zu Boden zu stürzen.
    Kein Zweifel, Stjopas Körper war stark. Wie sehr hoffte sie, dass sich die schlagartige Gewissheit einer Katastrophe, als sie ihn zu Beginn des Abends gesehen hatte, als unbegründet erweisen würde.
    Die Musik verebbte und alle klatschten.
    Draußen vor den Fenstern sanken Schneeflocken auf die Newa und fingen die Lichter der Stadt ein. Stets stahl sich der Schnee hinterrücks herbei, man schaute für einen Moment nicht hin – schon war er da. Die hohen Dächer und Lanzentürmchen waren bereits von einer weißen Decke verhüllt, und in der Ferne, über den Bäumen, leuchtete eine schneeweiße Kuppel wie ein Heißluftballon.
    Sie wandte ihren Blick wieder Stjopa zu. Er schwitzte, und Strähnen seiner dünner werdenden Haare klebten an seiner Stirn. Wieder und wieder blickte er hinüber zu den Reihen der Honoratioren. Funktionäre saßen dort, deren Gesichter sie aus der Zeitung kannte, und vielleicht zehn weitere Männer mittleren Alters in abgetragenen Jacketts. Einige von ihnen trugen Krawatten, und alle konzentrierten sich auf die mit Pasteten, Graupen und gekochtem Gemüse gefüllten Teller vor ihnen. Podolski hatte ihr erzählt, aus Etatgründen sei beschlossen worden, kein Fleisch zu servieren. Hinter den Ehrengästen prangte ein riesiges Porträt von Stalin, und zu beiden Seiten hingen kleinere, mit Trauerflor versehen Bildnisse der geliebten Toten, Sergej Kirow und Sergo Ordschonikidse.
    »Der Genosse Dschenow wird wohl nicht mehr kommen …«, bemerkte Stjopa trocken. Die beiden ältlichen

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