Gute Leute: Roman (German Edition)
genügten. Wie viele Juden gibt es heute in Warschau? Annähernd vierhunderttausend. Die geplante Mauer wird weite Teile der Stadt einschließen. Ein solcher Vergleich ist eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz.« Thomas hegte den Verdacht, dass Weller in Wahrheit seiner Meinung war – auch er war, wie etliche seiner Kollegen im Auswärtigen Amt, der Ansicht, dass die Repressalien gegen die Juden dem Image Deutschlands in der Welt nur schaden konnten –, aber die Gelegenheit nutzen wollte, um Unabhängigkeit zu demonstrieren und seinen Einfluss auszuweiten. Thomas fasste Wellers Memorandum umgehend als Kampfansage auf und stellte unmissverständlich fest, die ganze Idee stehe im Widerspruch zum Geist des »Modells des nationalen polnischen Menschen«. Weller seinerseits polemisierte, er verstehe den Geist des Modells ebenso gut wie Thomas, letztendlich akzeptierte er aber dessen Meinung und begnügte sich mit der Forderung, dass sein Standpunkt, wenn auch weniger harsch formuliert, in ihrer offiziellen Antwort zum Ausdruck zu kommen hätte.
Nachdem der Streit oberflächlich beigelegt war, sprachen sie wieder über die Arbeit, und Weller betonte ein ums andere Mal, die ehrliche Freundschaft zwischen ihnen bedeute ihm mehr als jede Kontroverse, doch unter dem Firnis der kollegialen Zusammenarbeit gärte eine Spannung neuer Art. Sogar ihre Russischstunden wurden unter verschiedenen Vorwänden eingestellt. Thomas hegte den Verdacht, seine raschen Fortschritte hätten Weller verschreckt. Eine vorzügliche Aussprache hatte er ja schon immer gehabt, und wenn Weller jetzt noch seinen Vorsprung in Sachen Grammatik und Wortschatz des Russischen einbüßte, könnte der Schüler schon bald seinen Lehrer überflügeln …
Gemächlich schlenderte Thomas über den von der Sonne beschienenen Vorplatz und suchte unter den Häuserfronten Schutz vor ihren Strahlen. Doch zu dieser späten Morgenstunde war der Schatten auf der Nowy Świat nicht mehr als ein dünner Streifen an der Straßenecke. Eigentlich liebte Thomas diese Samstag- und Sonntagmorgen, vor allem an klaren Tagen, wenn der Horizont endlos schien – doch jetzt kostete es ihn große Anstrengung, sich für die Schönheit dieses Tages zu begeistern.
Die ganze Welt verfolgte staunend, wie die Wehrmacht in Westeuropa einen strahlenden Sieg nach dem anderen errang, wie sich den Deutschen neue und unschätzbare Möglichkeiten eröffneten, während er hier im abgelegenen Warschau festsaß, mit Gutachten jonglierte und sich mit Weller stritt. Sogar die Komplimente, die Kresling ihm zu Ohren gebracht hatte – unter anderem hatte er erzählt, dass der Reichsmarschall just am Wochenende in Carinhall gesessen, in dem Modell geblättert und gesagt habe, es fänden sich doch tatsächlich noch Menschen mit geradem Verstand im Ministerium dieses Kretins Ribbentrop –, nicht einmal die hatten ihm Genugtuung verschafft.
Zwei SS-Offiziere kamen ihm entgegen. Der eine, groß und breitschultrig, helles Haar und sonnengebräuntes Gesicht, erinnerte ihn an Hermann Kritzinger. Thomas kam der Verdacht, es könnte tatsächlich Hermann sein, während er gleichzeitig mit Bestimmtheit wusste, dass er es nicht war. Seit dem Brief Klarissas, in dem sie ihm von dem Besuch dieses Schurken in seiner Wohnung berichtet hatte, war Thomas von der Illusion geheilt, Hermann würde ihn fortan in Frieden lassen. Wahrscheinlich war es die Tatsache, dass Thomas auch außerhalb von Milton reüssierte, die seinen Hass auf ihn am Leben hielt, aber Thomas hegte nicht die Absicht zu verschwinden, im Gegenteil. Zuweilen quälte ihn zwar noch die Furcht, Hermann plane einen weiteren Schlag gegen ihn, doch von Monat zu Monat wurden die Phasen länger, in denen Hermann nur noch am Rand seines Bewusstseins existierte. Zuweilen kollerte sogar eine sonderbare Stimme in ihm: Wenn dieser Schläger seine ganze Energie an mich verschwenden will, nur zu! Soll er nur etwas unternehmen, wir werden schon fertig mit ihm!
Die beiden Offiziere kamen an ihm vorüber. Der sonnengebräunte Standartenführer deutete eine leichte Verbeugung an.
»Einen wunderschönen guten Morgen, die Herren«, grüßte Thomas, und die Leichtigkeit kehrte in seine Glieder zurück. Ihm fiel ein, dass er den sonnengebräunten Offizier schon einmal gesehen hatte, als dieser mit einem Mann aus der Entourage des Führers geflüstert hatte, bei dessen letztem Besuch in Warschau.
Sie entfernten sich, und Thomas überlegte, ob es lohnend sein
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