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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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und Mühe zu schätzen, die du in dieses Gespräch investiert hast. Aber glaube mir, wenn ich mir die Seelenklempnereien von Schlägertypen anhören wollte, würde ich euch in euren Löchern suchen gehen.«
    »Das ist das zweite Mal, dass du einen SS-Offizier und Träger des EK II einen Schläger genannt hast«, stieß Hermann hervor, schlug die Hacken zusammen und wandte sich zur Treppe, den Arm mit gespielter Resignation gehoben.
    »Denk dran!«, rief Thomas ihm nach. »Die Rechnung zwischen uns kann nur auf eine Weise beglichen werden.«
    »Nanu, plötzlich wirst du selber zum Barbaren«, gab Hermann über die Schulter zurück. »Empfindet denn ein kultivierter Mensch wie du nicht bloß Verachtung für uns?«
    » Bei jedem Menschen gibt es einen Punkt«, schrie Thomas ihm nach, »und in dem Augenblick, in dem man ihn überschreitet, sind wir alle Barbaren.«

Dritter Teil

Die Welt ist ein Gerücht

Brest, Oktober 1940
    Die ziegelroten Türme der Festung verschwanden hinter der Schonung. Windstöße ließen Gras und Schilf am Ufer des Flusses sich sacht hin und her bewegen. Sascha sog voller Behagen den Geruch von Gräsern und Moos ein und blickte zum Fluss, in dem sich die Stämme der Bäume spiegelten. Gelbgesprenkelte Blätter fielen von den Bäumen, und sie streckte ihre Hände aus, um sie aufzufangen, sie zwischen den Fingern zu Kügelchen zu zerkneten, die an der Haut kleben blieben. Bald war sie bis zum Ende des Wäldchens vorgedrungen, wo die Bäume lichter wurden.
    Leichter Regen setzte ein, die Ebene weitete sich, und die quälende Last, die verschwunden war, als sie durch das Dickicht des Waldes gestapft war, legte sich von neuem auf sie. Sie dachte an die Träume der letzten Tage, in denen es immer um Wlada und Kolja gegangen war: Die Zwillinge zerteilen mit Messern einen Vogel in Gestalt von Stepan Kristoporowitsch, und ihre Mutter ermahnt sie: Eine Keule isst man mit den Fingern. Podolski und Resnikow zernagen die hölzerne Trennwand im Zimmer der Zwillinge. Tscherkessen in Offiziersmänteln, die dem von Wlada ähneln, werden von Kugeln durchsiebt.
    Vor ihr stieg in einiger Entfernung hinter Stacheldrahtzäunen schwarzer Rauch auf. Sie rieb sich die Hände und stapfte weiter durch die morastige Erde der Steppe. »Unbarmherzig ist der Sumpf und verschlingt als erstes die Furchtsamen …«, pflegte ihr Großvater zu sagen, wenn er von seinen Ahnen erzählte, die in den Sümpfen von St. Petersburg verschwunden waren.
    Die Bilder der letzten Wochen überfielen sie: die Städtchen und Ortschaften Weißrusslands, die im Zugfenster vorüberzogen – Baranowitschi, Kobryn, vielleicht auch Maladsetschna? –, riesige Weiten, dahintrabende Pferde, Fuhrleute, die auf Maultiere eindroschen, Scharen von Häftlingen, die mit bloßen Händen einen Kanal gruben – »Das ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung, zwischen dem Dnepr-Becken und dem Bug eine Verbindung zu schaffen, und wir werden sie um jeden Preis bestehen!«, brüllte ein Offizier, noch keine zwanzig Jahre alt. Die Offiziere standen am Rand des Kanals, um sie herum ausgemergelte Körper, die wankend durch den Schlamm wateten, die Horizontlinie mit Wagen und Menschenkrumen gespickt, die sich in der endlosen Weite wie auf einem urzeitlichen Bild verteilten. Jetzt nahmen Großvaters Geschichten Gestalt an: Werst um Werst Sumpfland, darin Menschen, einer an den anderen gedrängt wie Kartoffeln auf dem Acker, so hatten sie Petersburg erbaut. Ob auch Vater und Mutter jetzt Gräben im Schlamm aushoben?
    Ein junger Offizier stand an ein Fass gelehnt und rauchte eine Zigarette. Als sie sich ihm näherte, warf er die Zigarette weg und nahm Haltung an.
    »Seien Sie gegrüßt, Genossin Weißberg, ich bin Leutnant Grigorjan«, sagte er in holprigem Russisch.
    »Seien Sie gegrüßt, Leutnant.«
    Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie gingen über eine provisorische Holzbrücke, die über die bereits ausgehobene Kanalrinne gelegt war. Gut zwanzig Meter unter ihnen stand ein Lastwagen, dessen Räder im Schlamm steckengeblieben waren. Sie traten von der Brücke und stapften zwischen Erdwällen hindurch, passierten Müllhaufen, die den Gestank fauligen Fleischs verbreiteten. Schwaden von Motorenöl stiegen aus zwei Baracken auf, die notdürftig aus Brettern zusammengezimmert waren und am ersten Tag des Winters in sich zusammenfallen würden.
    Schlammsilhouetten standen nicht weit von ihnen entfernt in gebückter Haltung, in den Händen Schaufeln, um sie herum

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