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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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rote Geschützrohre, die einzigen Farbtupfer weit und breit. Eine Gruppe von Soldaten in wollenen Mänteln. Ihre Suppenlöffel steckten neben den Bajonetten im Gürtel. Sie schrien, schlugen ihren Kameraden in den Nacken, trampelten mit ihren Stiefeln im Matsch herum und spritzen nur noch mehr Schlamm auf. Wie konnte es sein, dass jedes Mal, wenn sie junge Burschen oder Männer auf einem Haufen sah, ihr Blick nach Maxim Podolski Ausschau hielt?
    Einige beschimpften zwei Soldaten, die zwei Hasen in einem von Stacheldraht umgebenen Geviert nachjagten. Die beiden wankten durch den Matsch, als wären sie betrunken. Am Ende rammte der eine der beiden Rotarmisten sein Bajonett einem der Hasen in den Bauch. Er reckte sich, und mit einer trägen und koketten Bewegung schwang er das Bajonett mit dem aufgespießten Hasen in die Höhe und drehte es über seinem Kopf. Ein dunkelroter Strahl ergoss sich über sein helles Haar, lief über seine von Schlamm verkrustete Stirn und floss über sein Gesicht hinab zu den Lippen.
    Beifallklatschen, Pfiffe und Flüche erfüllten die Luft. Diese beiden Hasen würden jedem Soldaten ein Stückchen Fleisch von der Größe einer Streichholzschachtel bescheren, dachte Sascha.
    Der andere Soldat spießte den Kopf des zweiten Hasen auf und blieb neben seinem Kameraden stehen. Die Körper der beiden Hasen zappelten, Blut spritzte, und die beiden Jäger verneigten sich vor ihrem begeisterten Publikum. Auch die Bajonette und die Hasen verbeugten sich. In einiger Entfernung richteten sich jetzt auch die grabenden Soldaten auf und näherten sich den Hasen.
    »Sie sind sehr hungrig«, meinte Grigorjan.
    »Das ist noch kein Grund, sich wie Kannibalen aufzuführen«, sagte Sascha.
    Seinem Gesicht war anzusehen, dass er zwischen mehreren Antworten schwankte und sich am Ende entschied zu schweigen. In den letzten Tagen, auf ihrer Fahrt durch Weißrussland, in den armseligen Städten, kleinen Dörfern und Armeelagern, hatten, bis auf die Leute vom NKWD, alle geschwiegen, wenn sie zu ihnen sprach.
    »Leutnant Grigorjan, gibt es etwas, was Sie mir erzählen möchten?«
    »Manchmal die Soldaten arbeiten ganze Wochen und es gibt kein Fleisch.«
    »Ich werde die Beschwerde an die zuständigen Stellen weitergeben.«
    »Die Soldaten werden Ihre Hilfe wissen zu schätzen.«
    »Ich hoffe sehr, dass diese Informationen im Büro des Genossen Lew Sacharowitsch Mechlis mit ebensolcher Wertschätzung aufgenommen werden«, sagte sie und spürte, dass sie sich jenes arglos freundlichen, aber eine Warnung enthaltenden Tonfalls bediente, den sie von Stepan Kristoporowitsch übernommen hatte.
    Grigorjan antwortete nicht. Vielleicht hatte der junge kaukasische Offizier, der von der 12. Armee (beim NKWD bezeichnete man sie spöttisch als »Armee des Kaukasus«) nach Brest versetzt worden war, noch nie von Lew Mechlis gehört. Schweigend näherten sie sich einem Pulk von Soldaten, die langsam auf die Holzbaracken zu marschierten. Grigorjan blieb stehen, hakte die Finger hinter seinen Gürtel und summte mit zusammengepressten Lippen eine Melodie. Sie war schon im Begriff, ihn anzuherrschen: Du weißt, warum ich hier bin, führ mich zu Nikolai. Doch sein verwunderter Blick, als wäre ihr etwas Fundamentales entgangen, hielt sie zurück. Bei ihrer Arbeit hatte sie gelernt, dass man sich, wenn man im dunkeln tappte und ohnehin schon nicht mehr konzentriert war, am besten in freundliches Schweigen hüllte. Jetzt begriff sie, dass auch Grigorjan nach diesem Grundsatz handelte. Fast hätte sie gelacht.
    Genau in dem Augenblick hörte sie Grigorjan den Namen des Rekruten Nikolai Weißberg rufen. Aus dem Pulk löste sich einer der Soldaten, in der Hand ein Gewehr, dessen Bajonettspitze aus dem winzigen Auge eines kleinen Hasen ragte. Auf seiner blassen Wange blühte ein schlammverkrusteter Blutfleck.
    Grigorjan trat auf ihn zu, nahm ihm das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett aus der Hand, und Nikolais Blick folgte traurig dem sich entfernenden Hasen. Sascha näherte sich ihm, streifte mit einer schnellen Bewegung die Handschuhe ab, und als er ihr sein Gesicht zuwandte, schlug ihr der Geruch von Maschinenöl entgegen, der an seiner Uniform haftete. Der überraschte Ausdruck wich aus seinem Gesicht, und in seine Augen trat ein kalter Blick, der sie zu warnen schien: Denk an die Zeit, die vergangen ist, und spar dir Gesten, die ihren Platz in der Vergangenheit hatten.
    Sie war entschlossen, seine stumme Forderung zu ignorieren: Ihre

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