Gute Leute: Roman (German Edition)
kalten Finger spielten über sein Gesicht. Er bewegte sich nicht. Als kleiner Junge hatte er immer eine Melodie zum Takt ihrer Finger gesummt. Zwei Jahre schon träumte sie davon, ihre Finger von neuem über sein Gesicht spielen zu lassen.
Er hatte sich nicht allzusehr verändert. Er war ein bisschen gewachsen, seine Schultern waren breiter geworden, und seine Statur wirkte gleichmäßiger proportioniert. Sein kahlgeschorener Schädel betonte die schwarzen Augen, die jetzt zu groß wirkten. Die winzigen Bartstoppeln auf seinem Kinn sahen künstlich aus, auch sie hätte sich solche aufmalen können.
»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte er.
»Ein Unfall im Büro«, erwiderte sie.
»Wlada ist in Finnland gestorben.«
»Ich weiß.«
»Er hat gekämpft.«
»Mir wurde berichtet, dass er sich bei den Kämpfen ausgezeichnet hat.« Sie hatte nicht lügen wollen, es war ein fertiger Satz, der ohne ihr Zutun aus ihrer Kehle gekommen war.
»Ich hab jemanden getroffen, der ein paar Wochen dort war. Er sagt: Alle seine Kameraden sind im Schnee begraben, man hat ihnen die Zunge und die Augen rausgeschnitten, den Rest haben die Hunde gefressen.«
Sie schwieg.
»Du weißt, dass Serioscha und er damals die Wohnung von Brodski abgefackelt haben.«
»Ich hatte den Verdacht, dass sie es waren.«
»Hatte er es verdient?«
»Nicht mehr als alle anderen, und nicht weniger.«
»Und Mama und Papa?«
»Sie sind in Sibirien.«
»Leben sie noch?«
»Stand Juli, ja. Wir haben keine anderslautende Mitteilung erhalten.«
»Hast du Briefe von ihnen bekommen?«
»Schreiben ist ihnen verboten, ich habe es aus anderen Quellen gehört.«
»Interessant, dass du jetzt beim NKWD bist.« In seiner Stimme war nichts Herausforderndes, nur ungerührtes Sich-Abfinden mit Tatsachen und Schlussfolgerungen.
Es schien, als hätte sich alles, was einmal zwischen ihnen gewesen war, in einem anderen Leben zugetragen – die Nächte, in denen sie eng beieinander in ihrem Bett gelegen und die Schatten an der Decke gedeutet hatten, sich über Wlada und ihren Vater lustig machten (niemals über ihre Mutter) und sich die schöne Gestalt des Ingenieurs aus Paris vorstellten, der Sascha zur Frau nehmen und Kolja adoptieren würde – all dies erschien jetzt wie ein so unfassbares Wunder, dass sie begann, diese Bilder, die sich ihr eingebrannt hatten, in Zweifel zu ziehen.
»Ihr seid sehr nah an der Grenze«, sagte sie schließlich.
»Die Kommandantur der Panzerdivision befindet sich ungefähr acht Kilometer von hier«, antwortete er, und seiner Tonlage war anzumerken, dass er diesen Satz schon viele Male gesagt hatte. »Genau auf der anderen Seite des Flusses, über diesen Waldstücken dort«, er deutete auf die Horizontlinie, wo sich mächtige kupferfarbene Wipfel hin und her bewegten. Sie sahen stark und unbesiegbar aus. »Das ist die vorderste Linie der Wehrmacht.«
»In der Tat sehr nah.« Es waren die Worte, die Maxim gemurmelt hatte, als er sie in Brest besuchte.
Sie hatten Arm in Arm gestanden und auf den Fluss geschaut. Maxim sprach über alle möglichen Gerüchte, die im Außenministerium kursierten: Die Verhandlungen in Bukarest über die Donau seien gescheitert, und schlimmer noch, Molotows Besuch in Berlin habe mit einem Fiasko geendet, er wisse das aus erster Hand. »Oh, du bewegst dich aber wirklich in so unterschiedlichen wie exklusiven Kreisen, Maxim Adamowitsch.« Sie kniff ihn schelmisch in die Nase.
»Es ist anstrengend, beliebt zu sein«, bestätigte er, und beide lachten.
Seine Freunde von der Nachrichtendiensthauptabteilung der Roten Armee sagten, die Deutschen hätten bereits achtzig Infanteriedivisionen in das Grenzgebiet verlegt, dazu motorisierte Divisionen und Panzerkräfte: Die Wehrmacht hat den Großteil ihrer Truppen an unserer Grenze in Stellung gebracht. Sie planieren Wege, verlegen Eisenbahntrassen und richten Flugfelder ein. »Liebste«, hatte Maxim gesagt, »es gefällt mir gar nicht, dass du ausgerechnet in der am nächsten zur Grenze gelegenen Stadt stationiert bist. Sie sind genau auf der anderen Seite des Flusses.«
Danach hatte er auf seine Armbanduhr geschaut und laut Entfernungen berechnet, Rüstzeiten für Brückenköpfe, wie lange es dauern würde, um den Fluss zu überqueren, hatte in seinem Notizbuch die Marschgeschwindigkeit der deutschen Panzer in unterschiedlichem Gelände notiert und am Ende verkündet, im Falle eines Angriffs würden sie Brest innerhalb von fünfundvierzig Minuten
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