Gute Leute: Roman (German Edition)
erreicht haben.
»Genau. Wir sind einer der am nächsten zur Grenze gelegenen Außenposten. Bei guter Sicht könnte ich dir ihre Schützengräben, die Panzer und Artillerie zeigen. Bei unserem Nachrichtendienst glauben sie, dass diese Panzer noch nicht ihre schwersten sind. Gut möglich, dass sie das wirklich schwere Modell versteckt halten.«
Das Thema beschäftigte ihn, und bestimmt gab es noch mehr Einzelheiten, die er gern ausgebreitet hätte. Immer war er sehr belesen gewesen und hatte es geliebt, mit Fakten und Einzelheiten um sich zu werfen. Sie war versucht zu sagen: Kolja, erzähl mir von den Panzern, wir haben Zeit. Fieberhaft suchte sie nach dem richtigen Tonfall, diese Worte auszusprechen, aber sie klangen irgendwie gekünstelt. Als wollte man einen riesigen Saal nur mit einem kleinen Tisch vollstellen.
Kolja starrte auf die Schonungen jenseits des Flusses. Die Bedrückung, die auf ihm lastete, machte sie traurig: Früher hatte er wenigstens einen Menschen gehabt, der – wenn auch spät nachts, im Bett – jeder seiner Geschichten und jeder Verrücktheit lauschte. Ein Schauder überkam sie: Plötzlich tat sich vor ihren Augen der Abgrund seines Verwaistseins auf.
Sie setzte sich auf einen gefällten Baumstamm. Ein Soldat mit den Abzeichen der Luftwaffe an den Schulterstücken schritt zwischen ihnen hindurch und wies mit dem Kinn nach den »Ölbaracken«.
»Sie haben dir deinen Anteil aufgehoben«, sagte sie, überrascht von ihrem eigenen Glücksgefühl darüber, dass sie ihn mit Achtung behandelten. Sie begann ihre Füße zu bewegen, die ein wenig aufgetaut waren, und kratzte mit einem Zweig den Schlamm von ihren Stiefeln.
»Sie haben ihn in Belaya Tserkow rekrutiert«, bemerkte Nikolai.
»Gibt es viele Ukrainer hier?«
»Zwei.«
»Kommt ihr gut miteinander aus?«
»Hervorragend. Nur die Kaukasier, vor allem Grigorjan, machen uns manchmal zu schaffen.«
»Sie sind nun mal nicht wie wir.«
»Aber auch nicht so anders.«
»Ist einer aus Leningrad dabei?«
»Nein. Wir haben Tschetschenen und einen verwöhnten Knaben aus Moskau, der noch immer nicht kapiert hat, dass seine Mama ihm nicht mehr den Tee ans Bett bringt.«
»Wo schlaft ihr?«
»Dort.« Er wies auf die Ölgestank ausdünstenden Baracken.
»Ist euch nicht kalt?«
»Manchmal ist es kalt.«
»Und die Hasen sind euch auch ausgegangen.«
»Morgen werden wir irgendein Dorf in der Nähe überfallen.«
»Gibt es keine Fleischrationen?«
»Wir kommen schon klar.«
»Wirklich?«
»Und wenn nicht – kannst du uns etwa helfen?«
»Vielleicht wäre es möglich, sich an gewisse Stellen zu wenden.«
»Bitte, nur zu. Wenn wir mehr als vierzig Gramm Fleisch in der Woche bekämen, würden wir uns vielleicht nicht so beharrlich an manche Dinge erinnern.«
»Welche Dinge?«
»Vielleicht sollten wir lernen zu vergeben, Saitschik.«
Spott schwang in seiner Stimme mit, doch die Fremdheit dieser Stimme ließ jedes Wort wie eine Schelte klingen. Falten traten auf seine Stirn.
»Wann bist du in die Gegend hier gekommen, Saitschik?«
Ihre Mutter steht am Petroleumkocher und ruft: »Saitschik, wo ist das Wasser? Saitschik, wo sind die Kinder?« Sie war fassungslos, als sie begriff, dass dieses Kosewort in den letzten zwei Jahren aus ihrer Erinnerung verschwunden gewesen war.
»Vor ein paar Tagen.«
»Tatsächlich?«
»Zuvor hatte ich andere Aufgaben.«
»Welche Art von Aufgaben?« Abermals schwang in seiner Stimme ein provozierender Unterton mit, und ihr schien, als erwartete er ihre übliche Zurechtweisung: Nenn-mich-nicht-Häschen.
»Routineangelegenheiten, nichts Interessantes, ich bin nur eine kleine Sachbearbeiterin.«
»Wann bist du hergekommen?«, fragte er abermals.
»Vor zwei Wochen ungefähr.« Blitzte da in seinen Augen ein gehässiges Funkeln auf, das die Lüge quittierte? Vielleicht hatte ihm jemand in den zurückliegenden Monaten erzählt, dass sie in Brest stationiert war?
Sie schaute auf seine schwieligen, rissigen Hände, die das Bajonett in das Auge des Hasen gerammt hatten. Sein hochmütiger Blick, wie der eines Ermittlers, der mit der Beschuldigten spielt, setzte ihr zu. Sie kämpfte gegen das Gefühl an, dass seine rechte Hand, die ihr nahe war, sie gleich schlagen würde. Sie stand auf, ging ein wenig auf Abstand zu ihm und überlegte, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte. Wozu? Was würde Kolja das Wissen nützen, dass sie schon seit einem halben Jahr in Brest war? Zwar war sie zwischenzeitlich
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