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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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tatsächlich für bestimmte Aufgaben an andere Orte in Westweißrussland geschickt worden, in dieser Hinsicht hatte sie nicht gelogen, aber der Grund, warum sie ihn bis jetzt nicht hatte treffen wollen, war einfach: Sie fürchtete, etwas von Stjopas Schuld könnte auch an ihr kleben, und erst als klar wurde, dass Stjopa als Einzelfall galt, der keine weiteren Verhaftungen nach sich zog, und der Leiter von Abteilung 2 sein Urteil akzeptiert hatte – der Tatbestand »Fabrizierung von Beweisen und Verhinderung ordentlicher Gerichtsverfahren« hatte sie nachgerade amüsiert –, war sie zu dem Schluss gelangt, ein Besuch würde Kolja nicht in Gefahr bringen.
    Seine Augen suchten die ihren. »Man sagt, in letzter Zeit seist du in Leningrad zu Ehren gekommen.«
    Sie antwortete ihm mit seelenruhigem Blick: »Je kleiner ein Mensch, desto größer die Gerüchte, die er im Munde führt.«
    Er knetete seine Finger, genoss ihre Antwort. Die Hoffnung flammte in ihr auf, dass, je mehr Zeit verstriche, auch die Erinnerung an ihre gemeinsamen Nächte bei ihm wieder wach würde.
    »In der vergangenen Woche, als du noch in Leningrad warst, hast du da zufällig die ›Leningradskaja Prawda‹ gelesen?«
    Er wusste etwas. »Schon zwei Jahre habe ich diese Zeitung nicht mehr gelesen.«
    »Dann hast du auch nicht das Gedicht gelesen: ›Siehe, der Soldat Dmitri‹?«
    »Nein.« Sie hatte nicht übel Lust, ihm ins Gesicht zu schlagen und diesen hochmütigen Ausdruck wegzuwischen – der Ausdruck passte zu Wlada oder irgendeinem Ukrainer aus seiner Einheit, aber nicht zu Kolja. Alles zwischen ihnen war durcheinandergeraten, und der unsichtbare Faden, der Sascha in diesen letzten zwei Jahren an die Welt gebunden und am Boden gehalten hatte, begann zu verschmoren.
    »Schade, du hättest es sicher gemocht, es ist ja schon Jahre her, dass Nadjeschda Petrowna ein neues Gedicht veröffentlicht hat.«
    »Man hat Nadjeschda freigelassen?«
    »Die Zeitungen veröffentlichen für gewöhnlich keine Werke von Dichtern aus dem Lager.«
    »Ist sie nach Leningrad zurückgekehrt?«
    »Ja.«
    »Wann?«
    »Ist nicht lange her.«
    Jetzt begriff sie. Die Weite der Steppe begann sich vor ihren Augen zu drehen, auch die kupferfarbenen Bäume im Norden – sind das die Deutschen dort oder wir? – tanzten und feierten ihre Niederlage. Nadjeschda, umgeben von einer Schar Verehrer, ersinnt mit ihrer Kollerstimme fabelhafte Geschichten aus dem Gulag. Für Sascha war sie schon lange tot, was vollkommen in Ordnung gewesen war. Die Enttäuschung zu hören, dass Nadjeschda noch am Leben war, machte sie selbst fassungslos. Seit wann war sie ein Mensch, in dessen Augen der Tod eine angebrachte Form der Rache darstellte? Da, bitte, Muraschowski liegt mit zerfetztem Schädel da. Eine Menge Fragen summten in ihrem Kopf: Wussten sie von jenem Abend? War noch jemand freigekommen? Und warum hatte ihr Mann nichts davon erzählt?
    Noch immer hingen an Koljas Nase und seinem Oberlippenbärtchen weiße, blutige Haare.
    »Du hast da Hase im Gesicht.«
    Er antwortete nicht. Nachdem er ihre Seele derart in Aufruhr versetzt hatte, gab es vielleicht nichts mehr zu sagen. Verzweiflung erfüllte sie: Er würde niemals verstehen, dass sie nur für ihn alles geopfert hatte.
    »Verstehst du, dass es leichter für mich gewesen wäre zu sterben?«
    »Auch für mich, und beide sind wir noch hier, vielleicht als die einzigen.« Er fingerte aus seinem Mantel einen Strunk Tabak heraus, schnitt mit seinem Messer zwei dünne Streifen davon ab, rollte sie in Zeitungspapier und riss ein Streichholz an.
    »Sag das nicht, die Eltern leben noch.«
    »Ich wollte sagen, dass wir beide uns immer mit Flachsereien über den Tod amüsiert und die beneidet haben, die das Leben lieben, und jetzt sind die meisten tot oder so gut wie, und wir sind noch hier.«
    »Willst du damit sagen, dass wir das Leben doch geliebt haben?«
    »Mehr als wir dachten.«
    »Ich habe nicht mehr am Leben gehangen, seit du weg warst.«
    »Vielleicht mehr, als dir klar war.«
    Er reichte ihr die Zigarette und sie nahm einen tiefen Zug, der Geschmack war ekelhaft, als hielte man das Gesicht über einen Schornstein. Stjopa-Podolski brüllt von der Bühne: »Die Revolution braucht euch, Körper und Seele, alles ist in allem enthalten.«
    »Wann hast du angefangen zu rauchen?«
    »In der Schule«, grinste er. »Ich hatte Angst, es dir zu erzählen.«
    Der Aufruhr in ihrem Kopf legte sich ein wenig. Unklar, wie viel er wusste,

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