Gute Leute: Roman (German Edition)
»Don Giovanni« singt, Stimmen, die »Der Sennerin Abschied von der Alm« summen und traurige Kindheitslieder. Ein Offizier in ordengeschmückter Uniform und mit gestärkten Manschetten liest jetzt seinen Kameraden Auszüge aus einer zu Herzen gehenden Rede vor, die von Alvensleben vor der SS gehalten hatte: »Noch nie ist etwas aus Zartgefühl und Schwäche erbaut worden, neue Welten werden aus Stein und Blei geschaffen, aus Blut und Menschen, die hart wie Kruppstahl sind.« Und dann fügt der Offizier noch seinen eigenen Kommentar hinzu: »In Demokratien ist die Herrschaft auf die Liebe des Volkes angewiesen. Und auch wir benötigen sie, aber nicht pausenlos. Das Volk liebt uns und dann eine Weile nicht mehr, um sich uns irgendwann wieder zuzuwenden. Wir aber bleiben an der Macht.« Sein schwärmerischer Gesichtsausdruck weckte Thomas’ Zorn. Zu gern hätte er ihm einen Zweizack in den Hals gerammt.
»Habt ihr gehört, wie man Globocnik beim Stab des SS- und Polizeiführers nennt?«, posaunte eine Stimme von einem der verrauchten Tische. Globus, brummte Thomas leise. Außerdem war das ein alter Scherz von Himmler, wie Wolfgang ihm erzählt hatte. Manchmal hoffte er noch, Wolfgang würde eines Tages hier unter den Offizieren auftauchen. Von all denen, die ihm in Warschau eine Falle gestellt hatten, war Wolfgang der einzige, den Thomas gemocht hatte. Er hatte große Pläne für sie beide gehabt. Auch hatte er ihm verziehen, denn von dem Moment an, da der junge Offizier an das Triumvirat Kresling-Hermann-Weller geraten war, gab es nichts, was logischer gewesen wäre, als ihrem Wunsch zu entsprechen und seine innere Überzeugung dem anzupassen. Menschen, die sich anders verhalten hätten, war er noch nie begegnet. Überhaupt war er mit den Jahren zu dem Schluss gelangt, dass in der Religion, in der Folklore, der Kunst und sogar im öffentlichen Diskurs zu viele Gestalten auftauchten, die über vorzügliche Eigenschaften geboten und sich gegen jeden gesunden Menschenverstand verhielten. Und all diese schönen Geschichten erfüllten arme Kinder mit Schuld- und Schamgefühlen, weil sie es diesen hehren Gestalten nicht gleichtun konnten.
Spät in der Nacht beobachtete Thomas die Paare, die zu französischen Chansons und melancholischen Liebesliedern tanzten, und dachte an Klarissa. Tanzte sie jetzt auch? Jeden Abend bedachte er sie in seiner Phantasie mit einem anderen Verehrer, ließ beide durch Berlin wirbeln. Einmal hatte sie ihm im Vertrauen erzählt, einige ihrer Bekannten würden heimlich Swing hören, und jetzt stellte er sich vor, dass sie wie in den amerikanischen Filmen tanzten.
Er hatte ihr nicht mehr geschrieben, seit er aus Warschau wegversetzt worden war. Was sollte er ihr auch schreiben? Dass sein Aufstieg abermals vereitelt worden war? Dass sie ihm das Modell gestohlen und es seinem ärgsten Feind anvertraut hatten, während man ihn zu einem Lageristen in Lublin gemacht hatte? Sie hatte ihn einmal am Boden gesehen, das genügte.
Wochenlang saß er in dem Bierhaus, geflüchtet in den Schatten der Illusion, niemand kannte ihn, bis eines Nachts der Mantel der Anonymität aufgerissen wurde. Während eines Pokerspiels fragte ihn einer seiner Mitspieler am Tisch, ob er der Thomas Heiselberg vom »Modell des nationalen polnischen Menschen« sei. Er nickte bloß, doch der Gestapo-Offizier, dessen großspurige Art, die Karten zu mischen, ihn schon zuvor aufgeregt hatte, begann zu erzählen: »Es bestand ja großes Interesse an Ihrem Modell, als wir nach Lublin kamen. Wir hatten damals bloß ziemlich lausige Listen von der Intelligenz. Nun gut, der Präsident des Bezirksgerichts und der stellvertretende Präsident des Appellationsgerichts waren simple Fälle: Eine Kugel in den Kopf, und aus war’s mit den Appellationen. Aber darüber hinaus gab es auch Schuldirektoren, katholische Professoren, Musikliebhaber … Und dann kam von oben die Anweisung, uns der Archäologen anzunehmen. Wir haben Leute erschossen, weil sie Tonschüsseln besaßen!«
Als man auseinanderging, packte ihn der Offizier am Arm, blies Bierschwaden in sein Ohr und flüsterte: »Manchmal fragen wir uns, werter Herr Modell – wissen Sie, auch den Kleinen mit dem Finger am Abzug gehen zuweilen ein paar Gedanken durch den Kopf –, ob alles, was wir gemacht haben, tatsächlich so nötig war.« Thomas hatte noch lange gespürt, wie sich die kräftigen Finger des Offiziers in sein Fleisch gegraben hatten.
Bei Nacht war Lublin finster wie
Weitere Kostenlose Bücher