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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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vielleicht nicht viel. »Nadja hat dir geschrieben.«
    »Richtig, ich habe ein Gedicht und einen Brief bekommen.«
    »Was schreibt sie?«
    »Nicht viel, sie hat erzählt, dass sie dich beim NKWD wieder zu einem Wunderkind gemacht haben, dass du schon lange nicht mehr in Leningrad bist und dass Brodski in Sibirien gestorben ist.«
    »Wann ist er gestorben?«
    »Letzten Monat.«
    »Ich hätte gedacht, er hält durch.«
    »Dann hast du dich getäuscht.«
    »Und ist das Gedicht schön?«
    »Sehr interessant.«
    »Sie hat ein Gedicht über den Heldenmut der Soldaten geschrieben? Nadka? Ist sie jetzt eine Parteidichterin?«
    »In dem Gedicht ist Dmitri kein Soldat, er ist ein Junge von sieben Jahren, der die Uniform seines toten Vaters trägt.« Die letzten Worte sagte er ohne Gehässigkeit, eher mit Bedauern. Wahrscheinlich erriet er ihre Gedanken und wusste, dass sie sich in dem Augenblick, in dem sie wieder in ihrem Büro wäre, das Gedicht ohnehin beschaffen würde. Wo hatte der »Boris Godunow« in ihrem Bücherschrank noch gestanden? Oben, alle sechs Bände von Puschkin befanden sich dort.
    Jetzt blieb nur noch eine letzte Sache. Ein feiner Schleier trübte seine Augen. Offensichtlich wollte er ihr nicht noch mehr wehtun. Sie beschloss, Selbstlosigkeit zu beweisen und es an seiner Stelle auszusprechen. Ohnehin hatte sie sich in dem Augenblick, in dem sie begriff, welche Schuld man ihr andichtete, geschworen, aus dieser stinkenden Steppe zu verschwinden: Nadjeschda hatte das Gedicht dem toten Soldaten Wlada gewidmet.

Lublin, Januar 1941
    Immer im Schatten verborgen pflegt er die Hauptstraße zurückzulegen, meidet das Licht der Straßenlaternen, hält sich dicht an den Häuserfronten, biegt nach links in die Gasse ab, die zum Adolf-Hitler-Platz hinabführt, seine Stiefel tasten sich über die kleinen Krater, die die Bomben der Luftwaffe in den Straßenbelag gerissen haben. Tauben picken zwischen den Pflastersteinen des Platzes. Während seiner ersten Tage in Lublin hatte er beobachtet, wie sie auf festen Routen Standbilder, Fenster und Häuserdächer überflogen, als gehorchten sie einem geheimen Plan. Hinter der Kurve wird er geblendet von den Lichtern, die aus den Fenstern im zweiten Stock der SS-Kommandantur dringen. Was für ein monumentales Bauwerk. Es ist kalt, im Hals spürt er ein starkes Kratzen, er wendet die Augen von dem Gebäude: Auf immer wird er die Schmach in Erinnerung behalten, die man ihm hier, in der SS-Kommandantur des Distrikts Lublin, angetan hat.
    Auf seinen Lippen spielt vielleicht noch ein gefälliges, devotes Lächeln, doch seine Augen künden von der Selbstaufgabe: Das Gesicht eines Akrobaten, der von allen Seilen gefallen ist. Die Techniken Erika Gelbers helfen ihm schon lange nicht mehr. Vielleicht sollte er ihr wirklich schreiben, in dieses Arbeitslager Ravensbrück: Liebe Frau Gelber, ich hoffe inständig, Ihre Arbeit im Dienste des Dritten Reiches bereitet Ihnen Freude. Aufgrund einer gewissen Verschlechterung meines Zustands bitte ich Sie, meine Erinnerung hinsichtlich der »Vier-Phasen-Methode« zur Behandlung meiner Anfälle noch einmal aufzufrischen.
    Langsam steigt er von harschigem Schnee bedeckte Stufen hinauf und wird von einer kleinen Siedlung verschluckt: Die Äste der Bäume berühren rote Dachpfannen, über denen sich rauchende Schornsteine wie eine weitere Verästelung erheben. Im Hintergrund schlummert die erstarrte Stadt, ihre entvölkerten Straßen sind im Nebel versunken.
    In den Nächten, im Geviert der Steinhäuschen, die zu einem Amüsierbetrieb mit Bierhaus, Casino und Bordell umgewandelt worden sind, fragt niemand, wer er ist. Er pflegt, den Kopf an die Wand gelehnt, in einem Ledersessel zu sitzen, Schnaps und Obstler zu trinken, am Wochenende auch Cognac, und der Musik zu lauschen, die die ganze Nacht über spielt. Junge Frauen eilen umher, trippeln hierhin und dorthin, tragen Tabletts mit Wurst und Kohl, Brot und Bier, setzen sich den Männern auf den Schoß, die sie auf den Hals küssen. Sie sehen aus wie Backfische in einheitlicher Uniform: ein blauschwarzer Strich um die Augen, glänzende Wangen, schulterfreie Kleidchen, zarte Schlüsselbeine, schwarze Seidenstrümpfe.
    Am entfernten Ende des kleinen Saals findet sich eine erhöhte Holzbühne, von farbigen Lampen und der bläulichen Flamme des Petroleumofens erhellt. Manchmal werden dort kurze Darbietungen zur Aufführung gebracht – ein Chor betrunkener Offiziere, eine junge Sängerin, die Arien aus

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