Gute Leute: Roman (German Edition)
ein kleines Dorf. Die warmen Lichter Berlins, für die er zum Teil selbst verantwortlich zeichnete – »Nachtanzünder« hatte er die Werbeleute genannt, die das Potential von Lichtreklame am nächtlichen Himmel erkannt hatten –, wirkten jetzt wie ein Trugbild der Erinnerung. Die unbeleuchtete und düstere Stadt bereitete ihm Unbehagen, erträglich, solange er sich in Gesellschaft anderer Menschen befand, jedoch wie ein frischer Schmerz, sobald er allein war. Daher pflegte er bis in die frühen Morgenstunden durch die Straßen zu wandern. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, den Polizisten, die ihn den »schlaflosen Offizier« nannten, seine Ausweispapiere zu zeigen, und setzte seinen Weg fort in die nach Kloake und Fisch stinkenden Judengassen, eine Art Hügel aus zusammengepferchten Holzhäusern. Wie aus einem anderen Königreich erhob sich darüber die Burg. Er verstand nicht, warum diejenigen, die über die Stadt herrschten – Russen, Polen und jetzt auch die Deutschen –, eine so stattliche Burg dazu verschwendeten, Verbrecher einzusperren.
Gebäude, Kommandanturen und Arbeitslager, die er bei seinen nächtlichen Wanderungen durch Lublin sah, ließen ihn an einige der absonderlichsten Anfragen denken, die in der Vergangenheit im Büro des Modells in Warschau eingegangen waren. Zum Beispiel die eines SS-Arztes, der Häftlinge in der Burg behandelt und über die Aufträge der Gestapokommandantur im »Haus unter der Uhr« geklagt hatte. Man schicke ihm in Säcken verpackte Leichen von Häftlingen und er solle absurde Todesursachen wie Herzrhythmusstörungen, Rachenentzündungen und Grippe feststellen. »Meine Frage ist: Gibt es Krankheiten, welche die Polen auszeichnen und die sich auf den Totenscheinen ohne nähere Angaben anführen ließen?« Natürlich hatten sie die schändliche Frage nicht beantwortet und nur gewitzelt, dass die Zahl der Verrückten, die die Hilfe des Modells in Anspruch nehmen wollten, beängstigend anstieg.
Die Welt war klein und überschaubar in Lublin, den Weg vom »Haus unter der Uhr« bis zur Burg legte man in zehn Minuten zurück und kam dabei an den meisten Vertretungen des Reiches vorüber. Etwa eine Stunde vor Tagesanbruch kehrte er vor Müdigkeit wankend in seine Behausung zurück. Die Dunkelheit des Treppenhauses war angenehm, der Handlauf des wackligen Geländers, die Holzstufen knarrten unter seinen Stiefeln, stellenweise fiel das fahle Mondlicht auf die rostigen Briefkästen. Unwillkürlich dachte er an seine Wohnung in der Nowy Świat und an die schönen Gebäude in der Krakauer Vorstadt. In seiner ersten Woche hier war er so verzweifelt über seine Einsamkeit gewesen, dass er sich unerkannt auf einen Empfang in einer prachtvollen Wohnung mit schönem, von schmiedeeisernem Geländer eingefasstem Balkon, geräumigem Salon und hohen Decken geschlichen hatte. Der neue Hausherr hatte stolz einen silbernen Chanukkaleuchter präsentiert, den ein eindrucksvolles Relief zweier Löwen zierte.
In dieser Straße waren viele Wohnungen frei geworden, nachdem man die Juden umgesiedelt hatte. Er hatte mehrere Anträge gestellt, eine davon zugeteilt zu bekommen, doch seine Bitten waren nicht erhört worden. Am Ende hatte man ihm diese muffige Wohnung im obersten Stockwerk eines altmodischen Gebäudes in der Lindenstraße, vormals Lipowastraße, zugewiesen. Er fragte sich, ob aus Warschau und Berlin Anweisung ergangen war, ihm auch in Kleinigkeiten übel mitzuspielen.
Zwei ganze Wochen verstrichen vom Tage seiner Ankunft in Lublin, bis man ihn schließlich in die SS-Kommandantur bestellte. In jenen Tagen der Untätigkeit bat er schriftlich um ein Treffen mit dem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, nicht ohne die herzliche Korrespondenz zu erwähnen, die sie geführt hatten, als er die Vertretung des Modells in Warschau leitete. Er erhielt eine abschlägige Antwort, aus der die kaum verhohlene Verwunderung über die bloße Tatsache seiner Anfrage sprach. Auch als er darum bat, sich mit Ernst Zörner treffen zu dürfen, und bei der Gelegenheit an »die Anfragen des verehrten Herrn Gouverneurs an mein Büro in der Vergangenheit« erinnerte, wurde ihm, wenn auch in konzilianterer Form, schriftlich geantwortet, der Gouverneur sei sehr beschäftigt und werde vielleicht erst im April Zeit finden.
Eines Morgens dann erschien unverhofft ein Offizier bei ihm zu Hause und forderte ihn auf, umgehend beim Stab der SS anzutreten. Er eilte hin, öffnete die schweren Holztüren, musterte
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