Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
die Verantwortung für die Werkstätten in seiner Straße übernommen hatten. Der Fragesteller bat um seinen Rat hinsichtlich einer schnellen Umschulung jüdischer Arbeitskräfte, die »bislang vor allem in Schneider- und Schusterbetrieben beschäftigt waren«. Der Mann schrieb ihm, weil man sich im Büro von Walther Salpeter in Berlin lobend über das Schulungsprogramm für die Mitarbeiter von Milton geäußert hatte, für das Thomas seinerzeit zuständig gewesen war.
    Thomas hatte bereits flüchtige Bekanntschaft mit diesen Werkstätten im Lager Lindenstraße gemacht. Eines Nachts, der erste Schnee fiel, war er in seine Wohnung zurückgekehrt und hatte am Fenster gestanden, um den Flocken zuzuschauen, die auf die Stadt niederschwebten. Plötzlich, in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern, schälte sich ein Pulk nackter Körper aus der Dunkelheit. Zunächst war der Anblick so absonderlich, dass er an eine optische Täuschung glaubte, doch als er genauer hinsah, begriff er, dass auf dem verschneiten Hof nackte Menschen standen und dass die kleinen Erdhaufen liegende nackte Körper waren. Bald darauf war Hundegebell zu hören. Lichtgarben tanzten über den Schnee, beschienen im Fluge einen Fuß, einen Hintern, einen kahlgeschorenen Schädel oder den Nacken eines Menschen, dessen Gesicht im Schnee lag. Da waren Glieder, die zuckten, wenn sich das Licht auf ihnen bündelte, während andere starr und unbeweglich da lagen, und plötzlich registrierte er, dass er die Toten und die Lebenden zählte – und auch die, die er nicht zweifelsfrei zuordnen konnte. Nach einigen Minuten waren die Lichtgarben verschwunden, hetzten die Schattenrisse von Hunden nicht mehr zwischen den Körpern hin und her, hatte sich das Bellen im Pfeifen des Windes aufgelöst.
    Nach jener Nacht hatte er den Vorhang vor diesem Fenster nicht mehr aufgezogen. Schließlich gab es noch ein zweites Fenster.
    Als der Mann von den DAW ihm vorschlug, den Werkstätten im Lager einen Besuch abzustatten, lehnte Thomas daher dankend ab und sagte, er habe Gerüchte über ungebührliches Verhalten gegenüber den Arbeitern gehört. Der Mann gestand ein, auch ihn hätten solche Beschwerden erreicht, offenbar handele es sich um Aufnahmeriten, welche die Wächter neuen Gruppen angedeihen ließen. Künftig werde er dafür sorgen, dass solche unersprießlichen Bräuche aufhörten. Thomas erwiderte höflich, er zweifle nicht an den lauteren Absichten des Unternehmens, doch verfüge er leider in dem Feld, in dem die DAW tätig seien, über keine Fachkenntnisse. »Zu meinem Bedauern gibt es wohl nichts, was ich bei Milton kennen gelernt habe, das sich auf Ihre jüdischen Sklaven übertragen ließe.« Er versuchte nicht einmal, seinen Abscheu zu verbergen.
    »Ihre Antwort erstaunt mich ein wenig, Herr Heiselberg. In einem Gutachten, das uns von der Leitung des ›Modells des nationalen polnischen Menschen‹ übersandt wurde und Ihre Unterschrift trägt, heißt es, die Initiative, jüdische Kriegsgefangene aus den Reihen der polnischen Armee in unseren Rüstungsbetrieben zu beschäftigen, sei begrüßenswert und nutzbringend«, entgegnete der Mann scharf.
    »Selbst wenn ich so etwas geschrieben habe«, begehrte Thomas auf, »hatte ich nicht ein Lager wie dieses im Sinn.«
    Für gewöhnlich kam er erst in den späten Morgenstunden aus dem Bett und zumeist ohne eine Vorstellung, wie er den Tag herumbringen sollte. An Feiertage oder andere wichtige Termine, wie zum Beispiel seinen Geburtstag, erinnerte er sich erst Wochen später, und Kirchenglocken läuteten allein in seinen Träumen. Tagsüber verließ er seine Wohnung nicht. Gegen Mittag deckte er den Tisch mit blasstürkisfarbenem Porzellan, eine Hinterlassenschaft der deportierten Vormieter, und speiste in dem kleinen Wohnzimmer, während er am Abend Würstchen oder Kohlrouladen in dem Restaurant gleich neben seinem Haus aß, wo seine Angewohnheit, nach der Mahlzeit seine Serviette zusammenzufalten und in den silbernen Serviettenring zu schieben, um sie wieder nach Hause mitzunehmen, stets aufs neue verlegenes Lächeln hervorrief.
    Wöchentlich legte er beim SS-Stab einen kurzen Bericht über sein Fortkommen vor, erledigte Einkäufe und suchte einen Frisiersalon auf, womit seine Kontakte mit der Außenwelt auch schon vollständig wären. In der Kommandantur fragte man ihn gelegentlich, ob ihm nicht wohl sei, und selbst die Fleisch- und Gemüseverkäuferinnen wunderten sich über seine pergamentene Gesichtshaut und

Weitere Kostenlose Bücher