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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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nach dem nächsten daraus – nicht weil er aus sachlichen Gründen dagegen gewesen hätte, es genügte schon der gelangweilte Tonfall, in dem er über etwas sprach, um es ohne größeren Widerstand ihrerseits zu tilgen.
    Ihre Sinne waren wie benebelt, und kein Satz, den sie über die Lippen brachte, schien mehr eine Idee auszusprechen, die sie nicht schon erörtert hatten. Ein sonderbares Gefühl erfasste sie, und doch war ihre Beklemmung ganz real: Sie konnte nicht länger mit ihm in einem Raum bleiben, aus irgendeinem Grund stand sie wie unter einem Bann. Der Wunsch, diesen Mann loszuwerden, wurde stärker als jede berufliche Verpflichtung, und selbst ihre über die Jahre erworbene stoische Ruhe half ihr diesmal nicht.
    Sie schaute verstohlen auf seine goldenen Uhr, es war 12:40 Uhr, unmöglich, seine Uhr ging nach, ein ungläubiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, und er sah sie verwundert an.
    »Sie wirken amüsiert«, bemerkte er, sein Gesicht plötzlich erfrischt.
    »Ich musste gerade an eine Geschichte denken, die meine Eltern uns vor dem Schlafengehen erzählten.«
    »Darf ich sie hören?«
    »Nein, sie ist zu persönlich.«
    »Meine Mutter ist erst vor kurzem gestorben«, verkündete er mit einem Male, »unter sehr tragischen Umständen, sie war allein in der Wohnung mit unserer jüdischen Zugehfrau, Madame Stein.«
    Es fiel ihr ein, was Nikita Michailowitsch kürzlich zu ihr gesagt hatte: »Ihr Jüdischsein hat mich nicht davon abgehalten, Sie auszuwählen, im Gegenteil, lehren Sie diese Faschisten, dass wir niemals sein werden wie sie.«
    »Das tut mir leid zu hören.«
    »Ja«, erwiderte er, »Madame Stein war Jüdin, aber sie hatte nicht die Eigenschaften, die Juden gemeinhin auszeichnen.«
    Für einen Augenblick erschien er ihr wie ein Theaterschauspieler, der sich in einer Rhetorik der Aufrichtigkeit übt. Aber vielleicht sprach er ja tatsächlich aus tiefstem Herzen und nur ihr Misstrauen trübte ihre Wahrnehmung? Am Ende sagte sie sich, dass er bestimmt ihren Abscheu registriert hatte und sich jetzt ein bisschen jüdisches Wohlwollen erkaufen wollte.
    Ihr Gefühl, in diesem Raum ersticken zu müssen, wurde immer stärker.
    »Ich meine, wir brauchen ein bisschen Luft«, murmelte sie.
    Er hatte sofort verstanden, worauf sie hinauswollte, erhob sich und knöpfte seinen Mantel zu.
    »Jetzt sind Sie es, die ein wenig müde wirken, Mademoiselle Weißberg«, sagte er und machte so deutlich, dass er sich sehr wohl noch an ihre Bemerkung vom Morgen erinnerte.
    Dieser Mann war ein einziger großer Widerspruch. Den ganzen Morgen über hatte er die Rolle des Verzweifelten, Resignierten gegeben, doch in der letzten Stunde, als er sah, dass seine Taschenspielertricks – von denen einige gewiss ungeplant zum Einsatz gekommen waren – bei ihr verfingen, schien er wie neu geboren.

Lublin, Februar 1941
    Ihr Blick schien sich in jedem Fenster des Waggons zu spiegeln, ein Blick ohne Gesicht. Er erinnerte sich an fein geschwungene Wangenbögen, an Lippen, die ihn von nahem mit ihrer Üppigkeit überrascht hatten, doch diese Eindrücke waren so unwirklich wie Zeitungsausschnitte: Die ganze Frau war zu einer anklagenden Grimasse erstarrt.
    In einem bestimmten Augenblick, im Sitzungszimmer in der Festung, hatte er vehement protestieren wollen: Mademoiselle Weißberg, Madame Podolski, Genossin Weißberg, Jüdin W. oder wie auch immer Sie genannt werden, bei allem Respekt und gutem Willen, aber Ihr Blick lässt mich erzittern. Während der gemeinsam verbrachten Stunden hatte er gegen ihn angekämpft, gegen diesen Blick: Hatte das Sitzungszimmer im Geiste mit Gegenständen aus seinem Salon in Berlin neu möbliert, hatte die Höhe des Schnees zwischen den Festungstürmen berechnet, hatte die Brotscheiben gezählt, um dann mit einem Mal die Augen auf sie zu richten, wie ein Raubtier, das seine Beute überrascht – doch ihr Blick war unverwandt und strafend geblieben. Warum tat sie ihm das an?
    Grauen befiel ihn, als er spürte, dass sie ihn nach und nach zwang, zum Zeugen zu werden, wie ihr Blick von dem aus Papierschnipseln zusammengefügten und mit altem Leim verklebten Thomas Heiselberg in jeder Sekunde einen weiteren Fetzen ablöste. Von weitem mochte das Bild vollständig aussehen, doch von nahem lugte die Nacktheit unter den Schnipseln hervor.
    Und diesen Thomas Heiselberg, der gewillt war, entlastende Beweise vor ihr auszubreiten, funkelten die Augen der Genossin Weißberg an und schienen zu rufen: Mein

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