Gute Leute: Roman (German Edition)
lieber Freund, wollen Sie wirklich antworten? Sich verteidigen? Auf wie vielen Feldern haben Sie bereits ihre Zauberkunststückchen ausgesät? Um am Ende Lublin zu ernten? Und jetzt, noch mehr Maskeraden und Lügen?
Die Fahrt dehnte sich unendlich, er war umgeben von verschneiten Flächen, die die Nacht blau gefärbt hatte und von denen die kleinen Bauernhäuser mit ihren spitzen Giebeln verschluckt wurden.
Sein Blick glitt hinunter auf die sich ihm entgegenwölbende Erde, er sah sich selbst in den Schneeschaum springen. »Spring, Manfred, spring!«, war irgendwann ein begeisterter Schrei durch die Flure der Universität gehallt, die neue Losung für eine langweilige Vorlesung. In einem Seminar über Byron, während der Professor sich endlos über Manfred erging, der auf dem Berggipfel steht und nicht wagt, den Tod zu wählen, war eine Studentin aufgestanden und hatte gerufen: »Spring, Manfred, spring, wir sterben vor Langeweile.« Wie hieß sie? Else. Er hatte sich augenblicklich in sie verliebt. Ein Jahr später hatten sie geheiratet.
»Im Grunde genommen hast du dich in den Ausruf verliebt«, lachte Wolfgang, als er ihm die Geschichte erzählt hatte.
Der Zug bremste ab, und er rutschte auf den Boden des Waggons, wollte sich von dort am liebsten nicht mehr wegbewegen, seinen Kopf hatte es gegen den Rand des Sitzes geschlagen, sein Gesicht gegen die Armlehne gedrückt. Wieder hörte er Geflüster. Ein Anfall? Mach ihn dir zunutze, den Anfall, sei ein Mensch im Anfall!
Er meinte, jemand sähe ihn an, vielleicht von draußen, aber das störte ihn nicht. Bis zum Halt in Lublin blieb er auf dem Boden liegen. Hilfsbereite Menschen fuhren ihn nach Hause, Hände hielten ihn, als er auf der Treppe strauchelte, der Brand in seinem Körper ließ ihn beinahe auflachen, er schluckte ein paar Tabletten und legte sich ins Bett.
Zwei Tage versank er in einen Schlaf voller Albträume, erwachte nur flüchtig bei Geräuschen aus dem Lager, dem Gebrüll der Wachen, grellen Lichtern, die sich an die Vorhänge hefteten, und am Ende dem Knall von vier Schüssen.
In seinen Träumen standen Kinder am Straßenrand und schwenkten Fähnchen, trommelten auf Pappkartons, strömten Zehntausende von Soldaten zu Rechtecken angeordnet in einer gewaltigen Bewegung aus der Festung in das Zentrum von Brest-Litowsk. Nun wachte er auf, stolperte zum Schreibtisch und kritzelte etwas hin, rekonstruierte das Traumbild, schleppte sich danach zurück ins Bett und fiel noch einmal in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen begriff er, dass er im Schlaf weitere Bilder der Parade gesammelt hatte: Der Strom der Soldaten teilt sich, umschließt von allen Seiten eine kleine Stadt, die ihm unbekannt war, aber es ging nicht um die Stadt und ihre Größe, sondern um die geniale Planung der Parade.
Wie sollten die Verbände der Wehrmacht die Grenze passieren? Über die Brücken natürlich, es gab ja noch Brücken über den Bug. Und würden die Sowjets den deutschen Flugzeugen erlauben, in ihren Luftraum einzudringen, zu einem gemeinsamen Formationsflug? Um diese Dinge müssten sich die Militärs kümmern. Je mehr Fragen sich ergaben, desto klarer wurde die gewaltige Größe der Aufgabe. Eine solche Verantwortung überließ man nicht irgendeinem Versager.
Jeder weitere Augenblick, den er im Bett verbrächte, wäre eine beschämende Zeitvergeudung, zum Teufel mit der Jüdin Weißberg und ihrem Blick. Die Tage der Schwäche waren vorüber und würden nicht wiederkehren. Um der Parade willen würde er sie behandeln, als wäre sie ihm der teuerste Mensch auf Erden. Immerhin hatte er sich in der Vergangenheit auf derartige Manöver spezialisiert. Menschen, die nichts mit ihm zu tun haben wollten, waren seine ergebensten Befürworter geworden. Er musste allen zeigen, dass Thomas Heiselberg würdig war, an der Spitze des Komitees für die Deutsch-Sowjetische Militärparade zu stehen.
Er sprang aus dem Bett, stolperte wieder zum Schreibtisch, das Zimmer drehte sich um ihn, doch er ließ sich nicht beirren. Spannte ein Blatt in die Schreibmaschine und begann zu tippen:
Geliebte Klarissa,
gewiss, ich habe lange kein Lebenszeichen von mir gegeben, habe mich schändlich betragen, indem ich deine Briefe nicht beantwortete. Dies hatte seinen Grund in gewissen Schwierigkeiten, in die ich geraten war und die mich dazu führten, mich selbst von jenen Menschen fernzuhalten, die mir die Liebsten sind, um sie nicht in das Gespinst meiner Sorgen zu verstricken. Zuletzt jedoch ist
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