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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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solle zurückgehen zu seinen Kameraden und kein Wort über die Sache verlieren. Am nächsten Tag erwähnte Ihr Bruder das Gespräch gegenüber dem Kompaniekommandeur. Es war Krieg und für nichts Zeit, man hat eine kleine Ermittlung durchgeführt und ihn und den Politruk erschießen lassen. Die offizielle Version lautete, sie seien im Kampf gefallen.«
    Stille machte sich breit, mit ihren Nägeln schälte sie Holzfasern von der Tischplatte. »Ich verstehe nicht, wollte er etwa sterben?«
    »Aus dem Protokoll geht hervor, dass er eine schwere Glaubenskrise durchmachte und die Dinge beim Namen nennen wollte. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das Protokoll. Ich habe es für Sie besorgt.«
    »Ich will es nicht sehen.«
    »Wie Sie wünschen, meine Absichten waren nur die besten.«
    »Niemals hätte ich an Ihren Absichten gezweifelt.«
    Eine Weile saßen sie schweigend da. Sie wäre gerne gegangen, wagte aber nicht aufzustehen. Nikita Michailowitsch spielte mit zwei Flaschen, als wären es Schwerter, und wirkte wie ein Junge, der auf ein Lob gehofft hat und plötzlich gerügt worden ist. Die Infantilität der Männer war zuweilen schrecklich ermüdend.
    »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Nikita Michailowitsch.«
    Es war tatsächlich eine Woche der Hiobsbotschaften: Zwei Tage nach diesem Treffen erhielt sie von Maxim einen Brief und darin die Nachricht, dass Emma Rykowa sich das Leben genommen habe. Sogleich ließ sich in ihrem Kopf Brodskis sanfte Stimme vernehmen: »Den Gulag, die Kälte, den Hunger und die Arbeit – all das hat sie überstanden. Aber nicht die Freilassung von Nadjeschda Petrowna …« Mochten sie auch Brodski umgebracht haben, er hatte ihr wenigstens seine Ironie vermacht.
    An diesem Tag lief sie ziellos durch die Stadt, die Kehle zugeschnürt von Tränen. Bilder von Emma zogen in ihrer Erinnerung herauf, und auf allen war eine berückende Bewegung von Leben: Immerzu suchte Emma nach etwas – einem Opfer, um ihm Tatsachen vorzuhalten, die der- oder diejenige beharrlich verdrängte, ein Gedicht, das sie aufgewühlt hatte, dessen genauer Wortlaut ihr aber entfallen war, die Geschichte von einem Liebhaber, der das Weite gesucht hatte.
    Sascha kämpfte, sich von Emma loszureißen, sie den Gefilden der Nacht und der Albträume zu überantworten. So lautete doch die Abmachung, oder nicht? Bis zu Nadjeschdas Freilassung war es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass ein Mitglied aus der Leningrader Gruppe wieder auftauchen könnte. Für jeden von ihnen war ein Grab ausgehoben, das früher oder später bezogen werden sollte. In ihren Träumen befanden sie sich bereits in Gesellschaft der anderen Toten – und plötzlich erstanden sie wieder auf.
    Über eine Sache aber verlor sie zu Nikita Michailowitsch kein Wort: die Planungskommission der Deutsch-Sowjetischen Parade. Die Wahrheit der Vergangenheit war erträglicher als die der Gegenwart. Wenn er fragte, beschied sie ihn mit einer vagen Antwort und sagte, sie brauche noch mehr Zeit, die Pläne zu erstellen. Alle mit der Parade in Verbindung stehenden Dokumente stapelten sich in dem stets verschlossenen Schrank in ihrem Zimmer, und immer achtete sie darauf, Nikita mit dem Rücken zum Schrank Platz nehmen zu lassen, damit er nicht auf den Gedanken kam, einen Blick hineinzuwerfen. Die Angst, den Schrank aufgebrochen zu finden, wurde ihr ein steter Begleiter. Eines Tages fragte er sie nach der Festung, schließlich hatte sie einige Tage dort verbracht, um das Treffen mit dem Deutschen vorzubereiten. Welchen Eindruck hatte sie von der Bereitschaft der Soldaten gewonnen?
    »Es war sonderbar, dort zu sein«, erwiderte sie. »Die Festung liegt so nahe bei den Deutschen und wirkt doch wie ein kleines Dorf. Viele Frauen und Kinder, nachts spazieren junge Paare über die Brücken, umarmen sich in den dunklen Gängen oder verstecken sich in einem der Keller und lieben sich dort.«
    »Das klingt sehr romantisch«, lachte er.
    »Nicht wirklich, ich habe gehört, dass manche Offiziere ihre Frauen und Kinder nach Osten schicken. Sie fürchten, dass bei einem deutschen Angriff die Festung zur Falle wird: Die deutsche Artillerie würde alles in einer Minute kurz und klein schießen.«
    Nikita Michailowitsch empörte sich genau so sehr, wie sie erwartet hatte: »Jeder, der seine Angehörigen nach Osten verbringt und es wagt, von Krieg zu sprechen und Panik zu verbreiten, wird dies teuer bezahlen! So lauten die Befehle aus Moskau. Erinnern Sie sich an die

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