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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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meinen Zöpfen gespielt und mir einen Kupferarmreif geschenkt, Mandelstam und die Achmatowa sind in unserem Haus zu Gast gewesen, und Vater hat ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, Kirow habe zu Hause einen Kühlschrank von General Electric.«
    Zu spät wurde ihr klar, dass sich jener arrogante Tonfall in ihre Rede geschlichen hatte, mit dem sie ihren Freundinnen immer von den berühmten Leuten erzählt hatte, die gestern zu Besuch gewesen waren. Bilder aus der Kindheit überfielen sie, und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, den Schmerz in sich aufnehmen zu können. Ja, sie hatten gute Zeiten gehabt, die der Erinnerung wert waren. Offenbar hatte sie ihn neidisch machen wollen mit der geistvollen Gesellschaft ihrer Kindheit, doch dann fiel ihr gleich die nächste Geschichte ein: »Eines Tages erzählte jemand, Pasternak habe ihm eine Zeile aus einem seiner Briefe zitiert: ›Wir sind schon keine Menschen mehr, wir sind Epochen.‹ Sogleich verkündete ich, das sei die schönste Zeile, die ich jemals gehört hätte, worauf alle schrien, man müsse das Mädchen gegen das Pathos impfen. Es war schrecklich, dass wir uns niemals bezaubern lassen konnten, ohne dass wenigstens einer gleich geschrien hätte: ›Bitte sehr! Das ist genau der Kitsch, der die russische Dichtung umbringt!‹ Manchmal, wenn ich eine schöne Zeile hörte, bin ich in mein Zimmer gerannt, habe die Tür zugemacht und mir mit einem Kopfkissen die Ohren zugehalten, um die Worte zu beschützen.«
    Nikita Michailowitsch starrte sie erstaunt an, hauchte gegen seine Brillengläser und putzte sie mit seinem Ärmel. »Aber Alexandra Andrejewna, Ihre Geschichte hat doch bestimmt auch ein Ende, nicht wahr? Sie haben sich mit großem Mut von Ihren Eltern und deren Taten losgesagt, haben danach von allen Mitgliedern der Leningrader Gruppe Geständnisse eingeholt.« Seine Stimme wurde schwächer, die Courage war verflogen.
    »Es gab keine andere Wahl.«
    »Genossin Weißberg«, seine Stimme klang belegt, »ich hoffe, die Frage ist nicht zu aufdringlich, aber ich würde gern wissen: Geschieht es Ihnen zuweilen, dass Sie bereuen, was Sie getan haben?«
    »Ich konnte nicht anders. Ich hätte nur gemeinsam mit ihnen ins Verderben gehen können oder bleiben, für die Zwillinge. Ich quäle mich, Nikita Michailowitsch, Reue empfinde ich nicht.«
    »Ist Nikolai Andrejewitsch Weißberg, jener Soldat aus der 42. Division im achtundzwanzigsten Korpus der 4. Armee, Ihr Bruder?«
    »Ja, das ist er.« Wie hatte sie hoffen können, diese Tatsache vor Nikita Michailowitsch zu verbergen?
    »Dann ist er ja im Bereich der Festung stationiert, ganz in unserer Nähe«, frohlockte er, und Dankbarkeit erfüllte sie ob der – wenn auch nur gemimten – Arglosigkeit, mit der er die Tatsache präsentierte, die sie vor ihm geheim gehalten hatte. »Führen Sie ihn uns doch einmal vor, dann laden wir ihn zu einem guten Abendessen ein, trinken zusammen bis zum Morgen.«
    »Das wäre sehr nett von Ihnen.«
    »Und Ihr anderer Bruder ist Wladmir Andrejewitsch Weißberg, der in Finnland getötet wurde?«
    »Wlada ist dort gestorben.«
    »War er ein sturer Bursche?«
    »Vielleicht ein wenig.«
    »Ich habe nicht eben wenig darüber nachgedacht, Alexandra Andrejewna«, sagte er leise, betrachtete prüfend seine Fingernägel und wirkte gequält. »Ich habe Ihnen gesagt, ich möchte, dass wir aufrichtig zueinander sind bei unseren Treffen, und ich bin überzeugt, es ist Ihr Recht, die Wahrheit über die Umstände seines Todes zu erfahren.«
    Sie wendete den Blick von seinem Gesicht, fühlte sich an den Stuhl gefesselt, jeden Augenblick würde er ihr etwas Schreckliches erzählen, der kleine Intrigant.
    »In Finnland hatte er ein Gespräch mit dem Politkommissar seiner Kompanie vereinbart und ihm gesagt, sein ganzes Leben habe er an die Partei geglaubt, sei aktiv in allen Gremien gewesen, aber zuletzt habe er Dinge gesehen, die ihn erschüttert hätten. Er verstehe diesen Krieg nicht und hätte nie geglaubt, dass die Rote Armee, die er immer verehrt habe, sich derart grausam an Zivilisten vergehen könne. Vielleicht sei sein Glaube an die Partei nicht mehr so unerschütterlich wie einst.«
    Er beugte sich vor zu ihr und schien bestürzt beim Anblick ihres Gesichts. »Möchten Sie das denn nicht hören?«
    Sie nickte nur zum Zeichen, er möge fortfahren.
    »Der Politruk mochte ihn offenbar, in dem Bericht heißt es, alle hätten ihn gemocht, er sagte ihm, er

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