Gute Leute: Roman (German Edition)
Hungerhaken wird uns beide noch unter die Erde bringen, schon lange wird von Krieg geredet und nichts passiert.
Die Worte sollten sie beruhigen. Doch der deutsche Angriff erschien ihr derart erschreckend und das Wissen, dass nichts ihm würde standhalten können, so niederschmetternd, dass sie ihn angefleht hatte, nur um den schützenden Klang seiner Stimme zu hören. »Gib mir Beweise, dass kein Unglück geschehen wird«, bat sie. »Beweise, dass Kolja nichts passieren wird.«
Er nahm sie in den Arm, und am Zucken seiner Lider erkannte sie, dass er erstaunt war, sie in einer derart schicksalhaften Angelegenheit wie ein kleines Mädchen reagieren zu sehen. Vielleicht versuchte er sich auch zu erinnern, ob er sie jemals so verletzlich erlebt hatte. Gewiss nicht seit ihrer Hochzeit.
Wirf die Angel der Erinnerung weiter aus, Maxim.
Lublin, März 1941
Auf dem Platz Menschen, Handkarren und Koffer; die Tauben waren verschwunden, der Morgen war noch nicht angebrochen, und Thomas eilte zum Bahnhof. Der letzte Schnee war geschmolzen und lästiger Regen suchte die Stadt bei Tag und Nacht heim. In den Straßen lebhafter Verkehr: Aus schmalen Gassen, den Hinterhöfen der Häuser und Nebenstraßen ergossen sich Männer, Frauen und Kinder, schleppten ihre persönliche Habe, junge Burschen zogen die Karren, Mädchen zerrten an Koffern, und Jungen stießen Jutesäcke mit Silbergeschirr vor sich her, das auf dem Straßenpflaster klingelte wie Zimbeln. Auf einem der Karren wurden ein Louis-XV-Sessel mit hoher Lehne, Gemälde, ein Schrank im Rokokostil, ein verstaubter Kronleuchter und ein mit Silberbeschlägen verzierter Schreibtisch transportiert.
Die Juden hatten Anweisung erhalten, Lublin zu verlassen und sich einen anderen Ort zu suchen. Bekanntmachungen mit der Order des Distriktgouverneurs waren überall in der Stadt angeschlagen: Bis zum 15. April würde im Bereich des jüdischen Viertels ein Ghetto errichtet werden, in dem nicht mehr als 20 000 Juden leben sollten. Alle anderen müssten sich einen neuen Wohnort innerhalb der Grenzen des Distrikts Lublin suchen – es gäbe ja noch genug Städtchen und Dörfer. Die Häuser der Juden sollten an die Polen gehen. »Die uns vielleicht nicht lieben«, hatte Frenzel gestern gelacht, »aber zu schätzen wissen, dass wir ihnen die Juden vom Hals schaffen, wovon sie seit Jahrhunderten geträumt haben.«
Frenzel war glücklich wie ein kleiner Junge: Seine Aktion verlief mustergültig und hatte ihm bereits »Worte der Genugtuung und Wertschätzung« von seiten des Höheren SS- und Polizeiführers Globocnik eingetragen. Am gestrigen Abend hatte er Thomas ins »Deutsche Haus« eingeladen und mit ihm »eine Flasche des besten Weins im gesamten Distrikt Lublin« geteilt. »Wie du vorhergesehen hast, war uns der Judenrat von unschätzbarer Hilfe, vor allem der stellvertretende Bürgermeister, dieser Dr. Alten. Dein Rat, eng mit ihnen zusammenzuarbeiten und ihnen das Gefühl einer gemeinsamen Aufgabe zu geben, hat sich als genialer Schachzug erwiesen. Auch wenn ›an einem Strang ziehen‹ vielleicht eine etwas übertriebene Formulierung war, die sie sich nicht ohne weiteres zu eigen machen wollten …«
»Weil du die Verkaufsgespräche nicht mir überlassen hast«, frotzelte Thomas.
Doch Frenzel war in Gönnerlaune und nickte fröhlich. »Die Zusammenarbeit hat wirklich alle Rädchen gut geölt, die Herren vom Judenrat waren fügsam und sind einem diesmal nicht mit ihren osteuropäischen Gemütsschwankungen auf die Nerven gefallen. Der Judenrat zahlt denen, die wegziehen, die Fahrtkosten und sorgt dafür, dass die Juden, die in der Stadt geblieben sind, zur Arbeit antreten … Weißt du, wann ich begriffen habe, dass es ein genialer Schachzug war? An dem Tag, an dem die jüdischen Frauen Krach geschlagen haben, weil ihre Männer nicht aus Belzec zurückgekehrt waren. Der Judenrat und die jüdische Ordnungspolizei haben schnell und resolut für Ruhe gesorgt, und wir mussten keinen Finger krumm machen. Da habe ich begriffen, welches Potential in der Zusammenarbeit mit ihnen steckt. Sogar die Aktion zur Säuberung des Viertels, die sie selbst ausgerufen haben, war erfolgreich. Selbstredend hat der Judenrat die in der Stadt belassen, die Vermögen haben, die Steuern zahlen und die Juden hier finanziell unterstützen können, aber das ist deren Sache. Die Juden, die die Stadt freiwillig verlassen, behandeln wir korrekt – wie du es empfohlen hast, und ich betone diese Order
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