Gute Leute: Roman (German Edition)
nur auf Straßen mit geradem Verlauf begrenzen, denn wenn man schon um die Ecke den Lärm der motorisierten Einheiten hörte und ungeduldig abschätzte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie endlich da wären, und plötzlich brandete eine gewaltige, strahlende Welle durch die Straße – der Eindruck musste gewaltig sein.
Sie stand kurz vor Vollendung der Karte mit den durchnummerierten Straßen und fragte sich, ob ihre Pläne dem Deutschen wohl gefallen würden: Erschiene ihm die Idee einer von einer goldenen Aura umgebenen Parade reizvoll und originell? Und noch immer waren viele Fragen ungelöst. Zum Beispiel verstand es sich ja von selbst, dass ein Teil der Parade in der Festung stattfinden musste. Aber vielleicht war es sinnvoll, dort einen gesonderten Festakt abzuhalten, eine Reverenz an die Kriege der Vergangenheit? Und sollten sie eine gemeinsame Flugschau vorschlagen? Da sie sich mit niemandem beriet, faltete sie jeden Abend die Karten und Papiere zusammen und schloss sie im Schrank ein, aus Furcht, jemand könnte sie zu sehen bekommen und sich über ihr Pläne mokieren – so viele Fragen machten ihr zu schaffen, jeder Entschluss schien ihr von schicksalhafter Bedeutung.
Nikita Michailowitsch warnte sie, im Büro werde schon gemunkelt, dass sie sich seit Tagen nur noch von Wasser ernähre. Schließlich setzte sie sich einen Stichtag, an dem Thomas Heiselberg der neue Stadtplan und ihre Ideen übermittelt werden sollten. In der Nacht davor ging sie die Unterlagen wieder und wieder durch und prüfte, ob die Straßen noch effektiver zu beziffern wären, aber da es offenbar möglich war, die Nummerierung immer wieder zu ändern, entschied sie, der von ihr gesetzte Termin sei endgültig. Sicher würde Herr Heiselberg zufrieden sein: Immerhin hatte sie seine Bemerkung über die nummerierten New Yorker Straßen in Erinnerung behalten.
In den Abendstunden bestand Nikita Michailowitsch bisweilen darauf, sie in ihrem Büro zu besuchen, um ihre »Wahrheitsfindungssessionen« zu erleben. Beim ersten Mal überrumpelte er sie mit zahllosen Fragen, auf die ihre Antworten derart gezwungen gerieten, dass sie selbst erschrak: Bald würde er dahinter kommen, dass sie ihren Teil der Abmachung nicht erfüllt hatte, und die Leitung der Parade einem anderen Mitarbeiter übertragen. Daher beschloss sie, mit ihm über bestimmte Themen offener zu sprechen.
»Verstehen Sie, Nikita Michailowitsch, das Bewusstsein des Menschen ist Tag und Nacht, im Wachzustand wie in den Träumen, mit einer einzigen Sache beschäftigt: Es fordert seine Ansprüche ein. Eines Nachts, als alle schon betrunken waren und mein Vater wagte, sich neben seine Nadka zu setzen, gaben sie einen Text zum Besten: ›Schierlingstrank für das Bewusstsein‹. Am nächsten Morgen habe ich geschrieben: ›Als junges Mädchen entdeckst du die Geheimnisse des Bewusstseins, ehe du verstehst, dass es da keine Geheimnisse gibt, nur Muster, ich werde mir meiner Muster bewusst, und mit jedem neuen Muster stirbt ein Teil in mir ab.‹ Nadka war diese Schlussfolgerung zu dramatisch. Sie hatte diese Gabe, jemanden auf grausame Art zu kränken und gleichzeitig den Glauben an seine Fähigkeiten zu stärken.«
Wie lange sie schon nicht mehr von ihrer Jugend geschwatzt hatte. Amüsante Erinnerungen überkamen sie: »›Mehr Muse denn Dichterin‹, haben sie einmal in einer Zeitung über Nadka geschrieben. Mein Vater hatte Angst, sie könnte sich etwas antun, aber sie vereinbarte ein Treffen mit dem Kritiker, und am Ende hat der ihr das Vorwort zu ihrem nächsten Gedichtband geschrieben. Brodski hat immer behauptet, Nadka sei ein politisches Genie. Aber alles veränderte sich, die Spielchen waren irgendwann vorbei, ich glaube, sie hat die dreißiger Jahre nie begriffen.«
»All das ist wirklich interessant, Alexandra Andrejewna«, sagte Nikita Michailowitsch, »ich hätte nie gedacht, dass Sie in Ihrer Jugend davon geträumt haben, Dichterin zu werden. Obschon es ein recht verbreiteter Traum ist.«
»Vielleicht werde ich ja irgendwann eine Dichterin sein, warum nicht? Ihnen, Nikita Michailowitsch, mag es vielleicht sonderbar erscheinen, aber unser Haus war ein Anziehungspunkt für solche Menschen, Malewitsch hat an einem Abend bei uns im Salon gesessen und mich die ganze Zeit ›Shenja‹ genannt, Wassilij Degtiariow hat Tee getrunken, Preiselbeermarmelade geschleckt und sich mit meinem Vater bezüglich seines Maschinengewehrs beraten, Sergo Ordschonikidse hat mit
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