Gute Leute: Roman (German Edition)
wie sie am Morgen von Muraschowskis Vernehmung im Verhörzimmer wie eine dumme Gans mit ihm geschäkert hatte. Anstatt seine Absichten zu durchschauen, war sie ihm auf den Leim gegangen, hatte sich ihm genähert, auch nachdem er seinen Finger in den kochendheißen Tee getaucht hatte. Jetzt schien ihr, sie hatte verstanden, wie die Seele in solchen Situationen reagiert. Der Schrei ist nicht mehr als eine Art Schutz und bricht erst heraus, wenn schon alles vorbei ist. Diesmal würde das nicht geschehen.
»Löschen Sie bitte die Kerze, Genossin Weißberg.«
Wie sehr hatte sie sich in den zurückliegenden Stunden nach dem selbstsicheren Klang seiner Stimme gesehnt, die jede Silbe betonte. Behutsam blies sie die Kerze aus und gab sich dem Gefühl der Erleichterung hin.
Bisher hatte sie sich gut gehalten, nicht wahr? In den letzten Minuten hatte er bestimmt einen perfekten Plan ersonnen, der alle zufrieden stellen würde. Sie drehte sich um zu den beiden Männern: Am Horizont weitete sich ein bläulicher Spalt. Thomas Heiselberg saß auf dem Bett, den Rücken gekrümmt, den Blick auf seine Füße gerichtet. Nikita Michailowitsch hockte auf einem der orangefarbenen Hocker und trommelte mit den Schuhen auf den Holzboden.
Heiselberg zog seine Hose hoch und stand auf. Abgesehen vom Geräusch seiner Bewegungen herrschte absolute Stille im Zimmer. Er schloss seinen Gürtel, entledigte sich des zerrissenen Hemdes und fuhr sich mit den Fingern mehrmals durch die Haare.
»Nikita Michailowitsch Kropotkin«, seine Stimme verriet, dass er nun im Begriff war, ihnen einen exakten Plan zu präsentieren. Kein Zweifel, dieser Mann verfügte über außergewöhnliche Begabungen. Sein sonderbarer Anblick indes – er war ganz an das Fenster getreten, seine nackte Brust berührte fast die Scheibe – weckte eine diffuse Furcht in ihr.
»Genosse Kropotkin!«, ließ er sich abermals vernehmen.
Nikita Michailowitsch kam auf die Beine.
»Vielleicht wären Sie bereit, mir Ihr Hemd zu leihen?«, fragte Thomas auf Russisch. »Wir sind ja wohl einer Meinung, dass es unpassend wäre, wenn ich lediglich mit einem Jackett bekleidet nach Lublin zurückkehren würde.«
Nikita Michailowitsch war ein bedächtiger Mann und brachte kein Wort heraus, ehe er die neuen Informationen nicht verarbeitet hatte: Der Deutsche kannte seinen Namen, sprach fließend Russisch und wagte es, ihn um sein Hemd zu bitten. Abwechselnd sah er Thomas Heiselberg und Sascha an, als begriffe er erst jetzt, dass er zwischen ihnen gefangen war.
»Sie werden einsehen, Genosse Kropotkin, dass dieser kleine Zwischenfall unter uns bleiben muss. Ich verstehe Ihre Situation. Da die Genossin Weißberg fürchten muss, Sie könnten sich an ihr rächen, glauben Sie, dass sie Ihnen zuvorkommen und Sie denunzieren wird, um Ihr wahres Antlitz zu enthüllen – das ist der exakte Ausdruck hier, nicht wahr? Schließlich kennen Sie ja unsere liebe Genossin Weißberg, wissen, dass es im Lichte ihrer Taten in der Vergangenheit schwerfällt zu glauben, sie könnte Mitleid mit jemandem haben. Liege ich soweit richtig?«
Die Erkenntnis, dass er alles über sie wusste, erfüllte sie mit Bitterkeit. Er hatte sie bisher mit Wertschätzung, sogar mit Sympathie behandelt, während er doch nichts anderes als Abscheu vor ihr empfunden haben musste, da sein Herz ihm sagte: »Schau dir an, wie sich dieses Ungeheuer, das die eigenen Eltern auf dem Gewissen hat, für dich herausgeputzt hat!«
Nikita Michailowitsch stieß ein Schnauben aus, das sich auch als ein unterdrücktes Lachen deuten ließ und von einem Hustenanfall verschluckt wurde. Er spuckte auf den Boden. Er würde keinem Handel zustimmen, dachte Sascha und glaubte trotzdem noch immer, Heiselberg würde sicher irgendein Zauberkunststück vollführen.
»Hören Sie mir zu, Nikita Michailowitsch«, rief Heiselberg in einnehmendem, von gutem Willen nur so triefendem Tonfall, als spräche er zu einem alten Freund und gelobte, diesem aus einer Bredouille zu helfen: »Sie begeben sich in Gefahr, wenn Sie hier untätig sitzen bleiben, gut möglich, dass die Genossin Weißberg beschließt zu handeln, wenn Sie mir nicht helfen. Ihr Verhalten ist durchaus plausibel. Menschen wie wir schenken einem anderen nun mal kein Vertrauen. Aber es wäre betrüblich, wenn wegen dieses fehlenden Vertrauens ein Unglück über Sie hereinbräche. Und falls Sie in Ihrem Zorn versucht sein sollten, sich an Ihrer Ziehtochter zu rächen, dann halten Sie inne: Kennen Sie
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