Gute Leute: Roman (German Edition)
verzeihen, er würde nicht ruhen, bis er sie eliminiert hätte. Vielleicht nicht heute Nacht, vielleicht erst in einer Woche – wenn sich die Angst gelegt hätte, wenn sich eine Gelegenheit böte. In ihrem geheimsten Herzen hoffte sie, der wieder erwachte Thomas Heiselberg würde sie aus dieser Lage befreien. Sonderbar, auch nachdem er entzaubert war und sie ihn sogar fast nackt gesehen hatte, hielt ein Teil ihrer Seele immer noch an der Gestalt fest, die er vorgegeben hatte zu sein. Denn nach allem war diese Gestalt kein haltloser Schwindel: Erst vor wenigen Stunden, wie in einem anderen Leben, hatte er neben ihr in dem Wäldchen gestanden, ein Lächeln auf den Lippen, und sie in die Irre geführt, bis ihr der Kopf schwirrte.
Energisch stieß sie die Tür zu ihrer Wohnung auf. In der Sekunde, in der sie zwischen Tür und Schrank trat, meinte sie, einen Körper sich durch den Raum bewegen und gleich darauf aufs Bett sinken zu sehen. Doch in der Dunkelheit traute sie der Wahrnehmung ihrer Augen nicht. Sie näherte sich ihm. Er lag zusammengerollt da wie ein Embryo und keuchte. Sie kontrollierte seinen Puls, er war kräftiger geworden. Ein heftiges Gefühl der Erleichterung schoss durch ihren Körper, und neue Lebenskraft erfüllte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie im fahlen Mondlicht Nikita Michailowitsch an die Wand gelehnt und sacht auf seinen Gürtel trommeln.
Sie baute sich vor ihm auf. »Er atmet«, sagte sie.
»Sehr gut«, gab er zurück.
Nikita Michailowitsch näherte sich dem Bett und beugte sich über Heiselberg, seine Bewegungen waren selbstsicher und exakt.
»Den Koffer, bitte«, befahl er.
Sie stellte den Koffer zu seinen Füßen ab. Die Kontrolle über ihr Schicksal lag jetzt in seinen Händen. Für einen Moment fürchtete sie, er würde Heiselberg töten. Doch sie verwarf die Idee sogleich: Ein deutscher Emissär, der in ihrem Zimmer stürbe, wäre ein katastrophales Ergebnis für sie beide. Man würde ihn aller möglichen Dinge beschuldigen. Nein, Nikita Michailowitsch würde Heiselberg aus der Ohnmacht erwecken, sie würde ihm helfen, etwas zum Anziehen für ihn aufzutreiben, und danach würde er sich schon selbst zu helfen wissen, würde zu improvisieren verstehen, würde die verlorenen Stunden aufholen und hoffentlich heil aus der Sache herauskommen.
»Nikita Michailowitsch«, sagte sie mit belegter Stimme, »noch kann dies alles ein gutes Ende nehmen.«
Er hörte den versöhnlichen Tonfall und sagte: »Ich hoffe es.«
»Wird er wieder?«
»Wenn er bis jetzt nicht gestorben ist, wird er am Leben bleiben.«
»Können Sie ihn aufwecken?«
»Das tue ich.« Seine Stimme hatte einen hochmütigen, fachmännischen Ton.
Ein vertrauter Schmerz bündelte sich in ihren Schläfen. Sie ließ sich zu Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
»Ich gebe ihm jetzt Riechsalz«, hörte sie Nikita Michailowitsch sagen.
Sie schloss die Augen und überlegte – jetzt waren alle Zweifel verschwunden: Bei ihrem Eintreffen war Heiselberg offenbar wach gewesen. Er stellte sich nur bewusstlos, um Zeit zu gewinnen, und würde die Augen erst aufschlagen, wenn er verstanden hatte, was genau um ihn herum vor sich ging. Mit einem Mal nahm sie seine stumme Forderung wahr, ihm etwas über diesen Mann zu erzählen.
»Nikita Michailowitsch«, sagte sie, »es tut mir leid, dass ich Sie geweckt und genötigt habe, gegen Ihren Willen herzukommen. Ich entschuldige mich, wenn ich in der Erregung Dinge gesagt haben sollte, die nach einer Drohung geklungen haben. Das war nicht meine Absicht. Ich achte Ihren Rang und Ihre hohe Stellung, immer habe ich Sie für Ihren Anstand geachtet. Seit ich hier bin, habe ich nach Kräften Ihnen und dem NKWD gedient, und Sie haben mich mit großem Edelmut behandelt.«
»Das ist nicht der Zeitpunkt, in unserer gemeinsamen Historie zu schwelgen«, erwiderte er schroff. »Glauben Sie mir, dazu kommen wir noch.«
Ahnte er etwa, dass sie zu dem Deutschen sprach? Das war unmöglich: Nikita Michailowitsch wäre niemals in den Sinn gekommen, dass der Deutsche Russisch verstand. Französisch war die Verhandlungssprache zwischen ihnen. Welche Informationen benötigte Heiselberg noch? Sie hob den Blick zum Fenster. Der Mond war hinter einem dunklen Wolkenband halb verschwunden. Es blieben noch etwa zwei Stunden bis zum Morgengrauen. Sie trat zu dem kleinen Tisch und entzündete die Kerze. Danach kehrte sie zu ihrem Platz zurück und lehnte sich gegen die Wand, erinnerte sich,
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