Gute Leute: Roman (German Edition)
standen. Eine Wäscheleine mit Unterwäsche und Socken spannte sich zwischen einem kleinen Schminktisch und dem Tisch aus Kiefernholz, auf dem die Kerze in ihrem Leuchter stand. Zwei orangefarbene Kinderschemel und ein Kleiderschrank, der an der Wand neben der Tür stand und nur einen schmalen Durchgang ließ, komplettierten die Einrichtung.
Die stickige Luft im Zimmer war kaum noch zu ertragen, hinzu kamen Schweißgeruch, der Gestank von Erbrochenem – sie erinnerte sich nicht, dass er sich erbrochen hatte – und das süßliche, ölige Aroma seiner Pomade. Aus irgendeinem Grund verschärfte sich der Gestank, je weiter sie sich von seinem Körper entfernte. Offenbar hafteten seine Ausdünstungen bereits an ihrem Kleid und ihrer Haut. Vielleicht sollte sie lüften? Doch das Quietschen des Fensters konnte die Nachbarn aufwecken. Thomas Heiselberg war zu einem Wesen geworden, das über ihre Behausung herrschte. Würde er sterben oder leben? Sie wollte, dass die Würfel endlich fielen. Sie blies die Kerze aus und näherte sich dem Bett, um ihrer Angst Herr zu werden: Auf einmal hatte sie den Wunsch, ihn versöhnlich zu stimmen.
Lüg nicht, schalt sie eine innere Stimme. Du parierst vor ihm, weil du befürchtest, er könnte sogar in seiner Bewusstlosigkeit deine Taten registrieren. Sicher, spottete eine andere Stimme, er ist bewusstlos, sieht dich aber trotzdem, er ist sterbenskrank und wird dennoch die Parade retten: Du überhäufst ihn mit Ehre, er ist deine letzte Hoffnung, er und seine grandiose Scharade …
Sie streckte sich rücklings auf dem Bett aus, und ausgerechnet neben ihm klang ihre Angst ab. Es war sinnlos, den Schlaf abzuwehren: Bliebe sie noch eine Stunde länger wach, würde sie den Verstand verlieren … Ohnehin erschien jede Idee, die ihr in den Sinn kam, unbrauchbar, sie würde also für eine Minute oder zwei die Augen schließen. Vielleicht war es ja an der Zeit, dem Schicksal die Regie zu überlassen. Das Bett war klein, ihr Rücken drückte sich gegen seinen glatten Arm, ihr Kopf ruhte in seiner Halsbeuge.
Plötzlich entfuhr ihr ein spitzer Schrei, stand ihr ein Bild der Katastrophe vor Augen, die der Schlaf über sie bringen würde. Sie rollte sich aus dem Bett und stand auf, eilte zur Tür und war im nächsten Moment schon auf der Straße. Hastete den breiten Boulevard zum Haus von Nikita Michailowitsch entlang. Der übermächtige Wunsch, das Problem in andere Hände zu legen, trieb sie voran. Sie wandte sich nach rechts in die Valerian-Kuibyschew-Straße – ihr Vater hatte ihn geliebt: »Er hat Tag und Nacht gearbeitet, damit wir zum Westen aufschließen.« Am Ende der Straße wirkte das Haus, in dem Nikita Michailowitsch wohnte, wie ein riesiges Schiff, dem das Deck fehlte. Die Straße war erfüllt von Grillengezirpe und Katzengeheul, durch ein Fenster huschte eine Gestalt, ihr schien, als beobachtete man sie.
Sie stieg die Treppe hinauf, betastete die schwere Holztür. Doch ihre innere Stimme warnte sie: Das ist ein schrecklicher Fehler, von dem es kein Zurück geben wird, er ist niemals ein Freund gewesen. Hast du das noch immer nicht begriffen? Er wird lediglich das tun, was ihm obliegt, wird keine Rücksicht auf deine Wünsche nehmen. Sie klopfte an die Tür und hörte einen Augenblick später nackte Füße sich schlurfend nähern. Nikita Michailowitsch stand mit wirrem Haar vor ihr, blinzelnd, und jetzt, da er keine Brille trug, sah sie zum ersten Mal, dass seine Augen von unterschiedlicher Farbe waren, wie von trübem Bernstein gepunktet.
Sie berichtete ihm, der deutsche Delegierte liege in ihrem Bett, schwebe zwischen Leben und Tod. »Sie haben Medizin studiert, Nikita Michailowitsch, vielleicht können Sie ihn aufwecken.«
»Schaffen Sie ihn einfach in ein Krankenhaus.«
»Das ist ganz und gar unmöglich.«
»Warum?«
»Es ist ganz unmöglich.«
»Ich befehle Ihnen, ihn in ein Krankenhaus zu überstellen!« Sein Ton war schroff, doch seine Augen blieben starr auf ihr Gesicht gerichtet, als wollten sie den Ursprung ihrer Weigerung ergründen.
»Unmöglich, die Deutschen dürfen nicht wissen, dass er hier ist.«
Ein Schatten der Entrüstung zog über sein Gesicht. Sie glaubte seine Gedanken zu lesen: Warum ziehen Sie mich da mit rein? Verstehen Sie denn nicht, Sie törichte Person, dass unsere Freundschaft sich auf Angelegenheiten beschränkt, die außerhalb solcher Gefahren liegen?
»Er ist ohne ihre Erlaubnis gekommen.«
»Will er die Seite wechseln?«
»Nein,
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