Gute Leute: Roman (German Edition)
Weißberg kannten sie nicht. Vielleicht wüsste Nikitin etwas.
»Wo ist er?«
Einer von ihnen, einer mit einem Jungengesicht, schob ihr seine Hand unter die Bluse und kniff sie in die Brust. »Wir haben ihn nicht gesehen, anscheinend ist er tot.«
An einer Wand sprach man über Frauen, die in die Hände der Deutschen gefallen waren, über ein Mädchen namens Walja Senkina.
»Habt ihr Nikolai Weißberg gesehen?«, schrie sie. »Habt ihr Soldaten der 42. Division gesehen?«
»Wir haben gar nichts gesehen«, war die trotzige Antwort.
Zwei Mädchen mit Zöpfen und vor Dreck und Blut starrenden Kleidern flehten um Wasser. Aus ihrer aufrechten Haltung und dem stolzen Tonfall kleiner Damen, deren Flehen noch immer wie ein Befehl klang, sprach noch die Erziehung eines strengen Elternhauses.
Mit einem Mal war der junge Soldat wieder bei ihr: »Wohin bist du verschwunden, ich beschütze dich.«
Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Abermals packte er ihre Schulter und stieß sie vorwärts, dirigierte sie mal nach rechts, mal nach links, wie eine Marionette. Sie ließ die Mädchen hinter sich und wünschte ihnen einen schnellen Tod. Als sie begriff, dass ihr Weg in die Tiefe führte, kämpfte sie, um sich aus seinem Griff zu befreien, denn ihr wurde klar, dass Kolja nicht hier wäre.
Der Soldat drängte sie an die Wand: »Wohin willst du?«
»Nach oben.«
»Nach draußen?«
»Ja.«
»Willst du sterben?« Er lockerte seinen Griff, sie schüttelte seine Hand ab und begann, sich gegen den Strom der Menschen wieder nach oben durchzukämpfen.
Sobald sie draußen war, hastete sie zu den Geschützrohren. Die Soldaten, die zuvor da gestanden hatten, waren verschwunden, bis auf einen, der dort zusammengerollt lag, das Gesicht entstellt, die Beine verdreht. Sie beugte sich über ihn, strich ihm durchs Haar und fragte ihn, wo der Gefreite Weißberg sei, 42. Division. Er röchelte, wurde von Krämpfen geschüttelt. Sie löste seine Hand von ihrer Bluse und lief davon.
Immer mehr Soldaten, die in den Verteidigungsstellungen um die Festung stationiert gewesen waren, kamen jetzt über den Appellplatz – kriechend, humpelnd. Wie von Sinnen hastete sie von einem zum nächsten, klammerte sich an ihre Körper, heulte, flehte um Auskunft. Einige gaben sinnloses Zeug von sich, wiesen in entgegengesetzte Richtungen, einer sagte, Kolja sei tot, ein anderer wollte seinen Kommandeur gesehen haben, nur leicht verwundet.
Der Morgen brach an. Ein zinnoberroter Firnis breitete sich über ihnen aus, Rauchsäulen stiegen zwischen Erde und Himmel auf. Ein Späher mit einem Fernglas in der Hand, der auf dem Dach eines nahen Gebäudes lag, brüllte, Kolonnen der Wehrmacht marschierten durch die Straßen von Brest. Die Festung sei von allen Seiten umstellt.
Podolskis Vorhersage hatte sich bewahrheitet. Aus dem Strom der sich zurückziehenden Soldaten war jetzt ein dünnes Tröpfeln geworden. Zwei Soldaten kamen vom westlichen Tor herangewankt und strebten den Höhlen zu. Sie stürzte zu ihnen und fragte, ob sie den Gefreiten Nikolai Weißberg von der 42. Division gesehen hätten. Einer der beiden, um dessen Arm ein blutiger Fetzen gewickelt war, sah sie mit stieren Augen unter versengten Wimpern an. Es war Grigorjan. Mit einem Mal schien er ihre Absicht zu erraten, packte mit der unverletzten Hand ihr Haar und zerrte sie hinter sich her zu den Kavernen.
Sie brüllte: »Ist er tot? Sag mir, ob er tot ist!« Sie schlugen sich durch die Menge, stießen und wurden gestoßen, traten blind um sich. Das Gerücht, die Deutschen hätten die Stadt eingenommen und ihnen bliebe nur noch dieser Teil der Festung, machte schnell die Runde. Zugleich nahm die Zahl der Uniformierten rapide ab: Hemden, Barette und Koppel, Schulterstücke und Mäntel der Roten Armee wurden hastig zusammengerollt und in die Wasserrinnen gestopft. Kinder zogen die Sachen wieder heraus und schmückten sich mit Offiziersrangabzeichen und Mützen.
»Ist er tot?«, fragte sie wieder.
Grigorjan nickte finster.
»Kein Zweifel?«
»Nein. Er hat neben mir geschlafen.«
»Hat er gelitten?«
»Wir haben einen Granattreffer abgekriegt, mich hat es gegen die Wand geschleudert, und als ich hochkam, war er tot.«
»Hat er manchmal über uns gesprochen?«
Eine Stimme rief Grigorjan zu: »Der Arzt ist hier!«
Er reagierte nicht. »In den letzten Tagen, als alle begriffen hatten, dass etwas Großes geschehen würde, hat er ein bisschen mehr geredet.«
»Was hat er gesagt?«
»Ich
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