Gute Leute: Roman (German Edition)
vielleicht würde er jetzt bereuen.
Es schien, als entfernte sich das Grollen wieder, als trüge es seine Schreckensbotschaft in andere Stadtteile. Reifenquietschen war vom Ende der Straße zu hören, jener lähmende Schrei, der vom Ziel des »Raben« kündete. Aus dem Zimmer der Eltern kam erneut verängstigtes Gemurmel, und ihr schien, dass ihr Vater ein Wimmern ausstieß.
Sascha begutachtete ihre Gestalt im Spiegel. Wie sehr liebte sie es, ihren Körper zu betrachten in der Dunkelheit, die ihre schlanke, hochgewachsene Figur betonte und die Hüften schmaler wirken ließ.
»Die Kinder sollen in ihren Zimmern bleiben.« Ein Unterton der Angst verzerrte die Stimme ihres Vaters. Sascha beugte sich zum Spiegel vor, um Lippenstift aufzutragen.
In allen Wohnungen ringsum waren Menschen aus dem Schlaf hochgeschreckt, hasteten atemlos durch das Labyrinth der Erinnerung: Wen hatten sie zuletzt getroffen, was hatten sie zu ihm gesagt? Hatten sie Kritik geäußert? Oder sich vielleicht nicht entschieden genug gegen die Kritik anderer verwahrt? In ihrer Vorstellung oszillierten die Gesichter von Feinden und Freunden, stieg die Furcht auf, brennender als je zuvor: Die in den schwarzen Limousinen wussten Bescheid.
Irgendjemand hatte geschworen, dass er, wenn ein Klopfen an der Tür zu hören wäre, aus dem Fenster springen würde. In Wahrheit aber würde er höchstens aus dem Bett springen, sich ankleiden, die Treppe hinter ihnen hinabsteigen, sich in den »schwarzen Raben« setzen und sich in sein Schicksal ergeben. Denn darin taten sie sich hervor, all diese Jammerlappen.
»Saitschik, wo willst du denn hin?«, fragte Kolja erneut.
»Ich hab dir doch gesagt, das geht dich nichts an«, flüsterte sie ungehalten. »In dem Augenblick, in dem ich gehe, siehst du zu, dass du in euer Zimmer kommst. Mama mag es nicht, dass du hier schläfst.« Sie erlaubte ihm nicht, in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer zu bleiben, weil er in ihren Gedichtheften zu stöbern pflegte und Bemerkungen hineinschrieb, die er für geistreich hielt.
Auf der Straße traf sie ein eisiger Windstoß, fuhr ihr übers Gesicht wie der Zweig einer Kletterpflanze. Sonderbar, in dieser Stadt schien es, als wäre der Wind nicht ein einziges Wesen, sondern eine Hydra aus mehreren kleinen Winden, die einem aus allen vier Himmelsrichtungen ins Gesicht peitschten. Die Bäume in der Straße schwankten, und die Krone des Baumes vor ihrem Haus schlug gegen die Hauswand. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich vorgestellt, in diesem Baum sei der Keim eines Unglücks angelegt, das eines Tages ausbrechen würde, weshalb sie immer darauf geachtet hatte, einen großen Bogen um ihn zu machen. Mit ausgreifenden Schritten wandte sie sich der Gasse zu, in der Sarubina hauste, die alte Schurkin, die in direktem Briefkontakt zu Mitgliedern des Politbüros stand und ihnen über gefährliche Machenschaften berichtete. Erst vor kurzem hatte Sascha hinter ihr in der Schlange zur Theaterkasse gestanden und unbändige Lust verspürt, ihre Finger um den pergamentfarbenen Hals zu legen. Im Obergeschoss, in der Wohnung der Alten, brannte Licht. Sascha drückte sich an die Hauswand. Als sie das Ende der Gasse erreicht hatte, konnte sie nicht an sich halten und warf einen feindseligen Blick hinauf zu dem großen Fenster (alle sagten, die Greisin habe das Fenster verbreitern lassen, um noch mehr Straßen unter ihrer Kontrolle zu haben). Sascha fürchtete sich nicht vor dieser abscheulichen Person, von deren Kinn eine Warze in Form eines kleinen Schuhs hing.
Die schwarze Limousine wartete an der Kreuzung auf sie, genau am vereinbarten Ort. Genugtuung erfüllte sie – sie hatten ihre Anweisungen exakt befolgt. Jetzt würden die Nachbarn in ihre Betten zurückkehren, würde die Anspannung weichen. Diese Nacht würde von nun an friedlich verlaufen.
Auf den Vordersitzen des schwarzen Wagens saßen zwei Männer.
»Seien Sie gegrüßt«, sagte der eine und deutete mit der Hand in den Fond des Wagens.
Sie stieg ein. Im Wageninneren roch es nach Zigarettenqualm, vermischt mit dem Geruch nach Ledermänteln.
Der Wagen fuhr los, schluckte Straße um Straße. Sie passierten Varlamows Haus. Sie stellte sich den Garten vor, dem sein ganzer Stolz galt, wo helles Laternenlicht die rosafarbenen Blätter des Pflaumenbaumes bürstete, die Kirschbäume ringsum und die in fröhlichem Grün lackierten Bänke. Sonntagnachmittagsstunden: Sie ist acht oder zehn Jahre alt, Frühlingssonne erwärmt die
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