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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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Gesichter. Alle laben sich an Früchten, verunglimpfen Dichter und Schriftsteller, mokieren sich über Varlamow, der in fortgeschrittenem Alter »Kirschblütengedichte« verfasst hat. Worauf er nachsichtig zu erwidern pflegt, der Schmerz sei etwas für die Jungen, die sich durch ihn noch in Erregung versetzen ließen, während alte Männer wie ihn der Schmerz längst schon langweile.
    Danach waren die Kinder, der Gesellschaft der Erwachsenen überdrüssig, gern durch nachtschwarze Flure gerannt, die zu einem angrenzenden quadratischen Hof führten, hatten sich beeilt, auch diesen hinter sich zu lassen, um abermals in den dunklen Flur des Nachbarhauses einzutauchen – in Varlamows Straße war die Mehrzahl der Gebäude viergeschossig. Den Augenblick, in dem sie von diesen Fluren aufgesogen worden war, hatte sie als Sturz ins Ungewisse empfunden, wie in einem Albtraum. Wie viele Ängste hatten nach ihrer Kehle gegriffen, als sie wie eine Blinde durch die Flure gehastet war, bis zu dem wunderbaren Sprung in den sonnendurchfluteten Hof. Gern hätte sie ein wenig dort verweilt, aber die Kinder rannten schon dem nächsten dunklen Flur zu, und sie hinterher. »Tod-Geburt-Tod-Geburt« hatten sie geschrien, starben in den Fluren und wurden in den hell beschienenen Höfen neu geboren.
    Der Wagen passierte den Bahnhof. Einige Menschen standen davor im Freien. Die Männer trugen schäbige, mit Reiseetiketten gepflasterte Koffer, die Frauen hielten Holzscheite und Kisten umklammert. Das waren keine Leningrader, das war jenes Wandervolk, das zu jeder Stunde des Tages und der Nacht den Bahnhof belagerte und darauf wartete, die Erlaubnis zur Weiterfahrt zu erhalten. Ihnen war nicht gestattet, in Leningrad zu bleiben, aber weiterfahren und sich einen anderen Ort suchen konnten sie auch nicht, so dass sie sich neben dem Bahnhof am Ufer der Newa ein Lager errichtet hatten. Sascha sah sie manchmal in den Abendstunden an den Seitenkanälen des Flusses, wie sie Gruben aushoben, darin Feuer entzündeten und einen dünnen Gemüseeintopf kochten. Gelegentlich wurden einige von ihnen verhaftet. Und immer wieder streiften Trauben von Dorfbewohnern durch die Gegend, die Letzten aus dem Heer von Bauern, die man vor sechs oder sieben Jahren von ihrem Land vertrieben hatte, in den Tagen der großen Kollektivierung. Nadja und Emma hatten den schrecklichen Hunger der Kulaken beklagt und das Schicksal ihrer unglücklichen Kinder. Auch Lewajew oder ihr Vater hatten einmal eine kritische Bemerkung fallen lassen, aber in den letzten zwei Jahren hatte kaum noch jemand gewagt, über sie zu sprechen.
    Auf dem Newski Prospekt stellten die Scheinwerfer des Wagens einen etwa fünfzigjährigen elegant gekleideten Mann, der die Straße überqueren wollte. Allem Anschein nach war er betrunken, andernfalls hätte er die Limousine längst bemerkt. Jetzt stand er wie versteinert in der Mitte der Fahrbahn und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Schreckensgrimasse.
    »Mach, dass du wegkommst, du Volltrottel«, schrie der Fahrer.
    Der Mann rührte sich nicht. Er schien zwar aus seiner Erstarrung erwacht, doch jetzt wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte.
    Er kommt aus der Wohnung seiner Geliebten, dachte Sascha. Dies waren die Stunden, in denen die Ehebrecher nach Hause zu eilen pflegten. Und er war zu Tode verängstigt, weil die schwarzen Limousinen die Furcht im Herzen der Menschen weckten wegen all ihrer Verfehlungen. Auch die, die noch die Wiedergeburt Christi erwarteten, glaubten, dass die schwarzen Limousinen das Urteil über sie fällen würden. Der »schwarze Rabe« war das Jüngste Gericht, und egal, an welchen Glauben ein Mensch sich klammerte – das Jüngste Gericht würde jeden verfolgen.
    »Du Hurensohn«, fluchte der Fahrer barsch. Sein Kompagnon begutachtete im Spiegel seine Kinnmulde und verwünschte das Rasiermesser, das dort immer Stoppeln stehen ließ. Der Casanova begann sich derweil zurückzuziehen, wobei er mit der Hand eine Bewegung machte, die zugleich eine Bitte um Vergebung und der Versuch war, die eigene Person unsichtbar zu machen.
    Einer der Agenten sagte etwas, und sein Nebenmann antwortete ihm. Alexandra hörte sie reden, aber ihre Aussprache, die Art, wie sie die Wörter zu einem undeutlichen Fluss vermengten, ließ sie kaum etwas verstehen.
    Sie hielten an einer Kreuzung, einer der Agenten zündete sich eine Zigarette an und legte den Unterarm ins Fenster. Von draußen wehte der Duft von frischem Roggenbrot heran. Sie

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