Gute Leute: Roman (German Edition)
stellte sich vor, wie ihre Finger es betasteten, zu lange hatte sie die knusprige Kruste eines ofenfrischen Brotes nicht mehr gefühlt. In der Stadt ging die Klage, die Kulaken vom Bahnhof stünden des Nachts vor den Bäckereien und ergaunerten sich Brot, deshalb sei für die Leningrader nicht mehr genug übrig.
Der eine der Agenten rief laut, ohne den Kopf zu wenden: »Alexandra Andrejewna, Sie sind eine hübsche Person.«
Sie antwortete nicht.
Der andere, der Fahrer, sagte: »Genossin Weißberg, das Kopftuch steht alten Mütterchen gut, nicht jungen, schönen Frauen. Vielleicht zeigen Sie uns Ihr Haar, wir haben schon so viel darüber gehört.«
Mit einer schnellen Bewegung zog sie sich das Tuch vom Kopf, und ihr Haar ergoss sich über ihre Schultern, sie spürte seine Berührung wie getrockneten Schorf am Hals. Abermals bereute sie, es nicht nass gemacht und gekämmt zu haben. Beide Männer drehten sich zu ihr um. »Wirklich sehr schön, Genossin Weißberg«, ließ sich der Fahrer vernehmen, dessen Kopf rechteckig wirkte und klein war wie der Kopf eines Knaben.
»Sehr schön, wahrhaftig, echtes Blau«, murmelte sein Kumpan.
Sogleich nahm sie ihr Haar wieder zusammen und verhüllte es mit dem Kopftuch. Das Verhalten der Männer amüsierte sie. Wenn einer den »schwarzen Raben« jetzt von außen sah, würde er wohl kaum glauben, dass die Männer darin wie Pennäler Süßholz raspelten.
Sie näherten sich der Abzweigung zum Litejni Prospekt, an dessen Ende, direkt am Fluss, das Hauptquartier des NKWD lag. Die Straße würde jetzt menschenleer sein. Rechtschaffene Bürger verspürten keine Neigung, sich des Nachts in der Nähe dieses Gebäudes herumzutreiben, das »Bolschoi Dom« genannt wurde – das große Haus – und als nie versiegender Quell für Greuelgeschichten, Übertreibungen und Kostproben schwarzen Humors diente. Würde man seine vielen Stockwerke abzählen, die unter der Erde und die darüber, wäre es das höchste Haus in ganz Leningrad. Erst vor ein paar Tagen war ihr das Bild in den Sinn gekommen, dass unzählige hauchfeine Fäden sich aus ihm erstreckten und dass jeder dieser Fäden um einen Menschen in dieser Stadt geschlungen war.
Vor allem empörte sie dieses zermürbende Warten auf das Unvermeidliche: Hatte einer ihrer Genossen Mitbürger je daran gezweifelt, dass Nadjeschda Petrowna sie alle ins Verderben stürzen würde? Und dennoch hatten sie nichts unternommen. Die Klügeren, wie etwa Lewajew, waren von dieser Frau abgerückt, doch auch er nicht entschlossen und unbeirrt. Die anderen hatten geklagt und halbherzig gewarnt. Niemand hatte etwas getan. Sie alle hatten es vorgezogen, in Angst zu leben und gleichzeitig die Hoffnung zu nähren, die Dichterin würde doch noch der Verfolgung entgehen. Aber wie, wenn es so viele Augen gab, die ihr nachspionierten, und Nadja mit solcher Tatkraft Aufmerksamkeit und Bewunderung sammelte, Gedichte schrieb, die die Erfolge der Partei verspotteten – vor allem die von ihr geliebten Schriftsteller und Dichter. Allein Gorki hatte sie bei seinem Tod einen ganzen Gedichtzyklus gewidmet. Sie alle – ihr Vater, Varlamow, Emma Rykowa, Brodski und Muraschowski – hatten sehr wohl gewusst, dass, wenn ein Mensch verhaftet wird, auch der Kreis seiner Freunde Exekution oder Exil zu erwarten hat, und alle diese Menschen hatten Frauen, Kinder, Geschwister, Ehegatten, Liebhaber und Verbündete. Mit ihrer Untätigkeit hatten sie alle in Gefahr gebracht …
Jemand musste dem ein Ende bereiten.
Anstatt auf den Litejni Prospekt abzubiegen, hielt der Wagen gen Süden.
»Fahren wir nicht zum Bolschoi Dom?«, fragte sie die Agenten.
»Hast du gehört?«, rief der auf dem Beifahrersitz fröhlich aus. »Die Genossin Weißberg möchte zum Bolschoi Dom gefahren werden.«
»Fahren wir nun dorthin oder nicht?«, fragte sie mit hartem Unterton in der Stimme.
»Genossin Weißberg«, beeilte sich der Fahrer zu antworten, diesmal beschwichtigend. »Das Treffen findet an einem anderen Ort statt, sobald wir da sind, wird man Ihnen alles erklären.«
Der Wagen beschleunigte. Sie schwieg, und auch die beiden Agenten sprachen nicht mehr miteinander. Einige Minuten später zogen zwei Flugzeuge über sie hinweg. Einer der Agenten deutete auf die Maschinen, und seine Hand bebte vor Begeisterung. Der Mond war durch die Wolkendecke gebrochen und ließ für einen Moment die Tragflächen der Jäger silbern erstrahlen. Dunkelheit senkte sich auf die Fahrbahn. Sie war nicht
Weitere Kostenlose Bücher