Gute Leute: Roman (German Edition)
den Blick zwischen Damen in glitzernden Abendkleidern und Pelzjäckchen und den Kellnerinnen in kurzen weißen Röcken und Seidenstrümpfen hin und her wandern. Dann entzündete er sich eine Pfeife, eine Marotte, die er von seinem neuen Freund, dem »Herrn Professor«, wie er den Mann vom Kaiser-Wilhelm-Institut zur Förderung der Wissenschaften nannte, entliehen hatte. In den letzten Wochen hatte Carlson immerzu von »diesem Genius« geschwärmt: »Das ist ein Bursche, mit dem sich Geschäfte machen lassen. Im Großen Krieg haben er und Professor Haber – dieser Jude, der den Nobelpreis bekommen hat und der, nachdem ihr ihn von hier vertrieben habt, wie ein räudiger Hund krepiert ist – für eure Reichswehr ein paar tödliche Gasmischungen zusammengerührt, Gase, die in den Arsenalen keinen Staub ansetzen konnten …« Der beschwipste Carlson zwinkerte ihm zu.
Er war zu gesprächig heute Abend, irgendetwas beunruhigte ihn.
Sie standen in einem Patio, der mit Statuen und Gemälden mythischer Kreaturen geschmückt war: Schlangen, die von den Wänden züngelten und menschliche Antlitze trugen, eine gehörnte Kreatur, deren Haut mit schwarzen Fellfetzen gesprenkelt war, und sogar Greifvögel, deren Schwingen als Schwertklingen endeten.
»Sieh dir das an«, Carlson ließ seinen Blick durch den Patio schweifen. »Das ist eine europäische Krankheit, die Gegenwart mit allen möglichen historischen Fäden zu durchwirken, als müsste alles eine Hommage an Vergangenes sein. Das genau ist das Problem von Berlin: Zu viele Stilrichtungen und Epochen kämpfen hier gegeneinander. Die eine Straße sieht aus wie ein Museum, die andere wie ein Vergnügungspark.«
Wie oft kann ein Mensch ein und dieselbe Theorie wiederkäuen? Thomas richtete verärgert den Blick nach draußen. Durch die großen Fenster waren die Beleuchtungsmasten zu sehen, die die Straße in mondhelles Licht tauchten.
»Ein Balkon, der sich in Gänze um ein Thema dreht!«, hörte Thomas den jungen Architekten seine Vision einigen hoch aufgeschossenen, hellhaarigen Männern erklären, allem Anschein nach skandinavische Diplomaten. Zwischen ihnen schritt eine blasse Frau auf und ab, deren Haar ein Diadem schmückte und deren schlanker Körper von goldenem Tuch umhüllt war. »Dies ist eine Anspielung auf die Sehnsucht des Menschen, eins zu werden mit der Natur. Die meisten der hier ausgestellten Werke sind von Höhlenmalereien aus der Aurignac-Kulturstufe beeinflusst.« Seine Stimme war tief und seine Ausdrucksweise geschliffen wie die eines Sohnes aus gutem Hause. Thomas’ Stimme klang im Vergleich dazu ein wenig schrill. »Hier, zum Beispiel, haben wir die fesselnde Version einer Karnevalsszene aus der Höhle der Trois-Frères.«
Die Frau ließ ein kurzes Lachen hören, und Carlson bedachte sie mit einem Blick der Selbstzufriedenheit.
»Eine phantastische Stimmung!«, brüllte er plötzlich und rüttelte an Thomas’ Schulter – die unbeholfene Freundschaftsgeste eines Menschen, der kaum je Freundschaften schloss. Thomas nahm sich vor, an diesem Abend Abstand von ihm zu halten. Carlson ließ sich gehen und sein Yankeegehabe konnte einen Einheimischen teuer zu stehen kommen. Mailer näherte sein Gesicht jetzt dem von Thomas und musterte es neugierig. »Trink etwas, Thomas! Wie kommt es, dass du nie etwas genießen kannst?«
Ein Offizier vom SD in schwarzer Uniform trat zu ihnen, ein kräftiger Bursche, der den Rücken durchgedrückt hielt und winzige Schritte machte wie ein junges Fräulein. Seine Augen waren hell, beinahe durchsichtig, so dass Thomas für einen Moment den Eindruck hatte, in einen Spiegel zu blicken. Er war diesem Offizier bereits in den Büroräumen von Milton begegnet. Seit zwei Monaten trafen sich Carlson und Jack Fisk, der Präsident des Unternehmens, mit Beamten des Wirtschaftsministeriums, vom SD und dem Ministerium Hermann Görings. Jemand hatte ihm erzählt, es werde über ein geheimes Geschäft, an dem Milton beteiligt sei, gemunkelt. Irgendetwas, was mit den Juden zu tun habe.
Thomas war nicht beleidigt ob der Entscheidung, ihn bei diesem Geschäft nicht zu Rate zu ziehen: Beleidigt sollte man nur sein, wenn sich eine klare Niederlage abzeichnete, alles andere waren Rudimente von Kindheitsängsten, mit denen man sich auseinandersetzen konnte, wenn man sich in Erika Gelbers Klinik befand.
»Guten Abend, Herr Mailer«, sagte der Offizier. Thomas grüßte er nicht.
»Seien Sie gegrüßt, Oberleutnant Bauer. Wir haben uns
Weitere Kostenlose Bücher