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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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hatte, wirkte er gepflegt, aber ein junges Mädchen konnte die Beweise für seine Hinfälligkeit nicht übersehen: Er zitterte, seine Augen waren gerötet, sein Gesicht war von Falten zerfurcht und sein Haar ergraut.
    In jenem letzten Schuljahr auf dem Gymnasium war Sascha in einer lähmenden Wehmut befangen. Maxim und sie entfernten sich zusehends voneinander, und vom ersten bis zum letzten Unterrichtstag betrauerte sie das Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit.
    Jetzt erzählte ihr Podolski, ein Amerikaner, den sie verhört hatten, habe gesagt, in einer Stadt in der Nähe von New York hätten sie einen großen Parkplatz zum Kino umgewandelt, und dort säßen jetzt junge Paare in ihren Autos und schauten sich Filme auf einer riesigen Leinwand an. Das sei ein billiges Vergnügen, koste nur ein paar Cent. Die Idee, zu zweit in einem Auto Kinofilme zu sehen, gefiel ihm. Auch Kapitalisten konnten zuweilen einen Geistesblitz haben.
    Sie drehte sich um, betrachtete den Parkplatz, und das Bild munterte sie auf: unzählige Paare, die in den schwarzen Limousinen saßen und sich einen neuen Film anschauten. Wie sonderbar: Maxim schenkte ihr Gelassenheit, ließ ihre Sinne abstumpfen. Am liebsten hätte sie sich rücklings auf die Motorhaube eines der Wagen gelegt und den Wolken zugesehen. Der erste Satz, der ihr in den Sinn kam, war: »Maxim, wenn wir von hier aus schnurgerade marschieren, meinst du, wir kommen ans Meer?« Doch sogleich regte sich Nadjeschdas Imperativ und hielt sie zurück: »Niemals dem verzaubernden Flüstern der Nostalgie erliegen!«
    »Geht es Nadjeschda Petrowna gut?«, fragte sie.
    »Sie ist ein bisschen in Isolationshaft gewesen. Hat Resnikow, ihrem Ermittler, eine Zeile von Chlebnikow zitiert …«
    »›Das Polizeirevier – ein entzückender Ort! Ort der Begegnung mit dem Staate‹«, flüsterte Sascha. »Sie hatte immer vor, diese Zeile zu zitieren, wenn man sie verhaften würde.«
    »Ja, das hat ihn trotz allem belustigt, aber am nächsten Tag hat sie in der Arrestzelle zwei junge Jüdinnen getroffen, die der Führerschaft in einer konterrevolutionären zionistischen Organisation beschuldigt wurden, und hat ihnen erst einmal erklärt, was Zionismus ist. Die beiden haben die Lektion runtergebetet, die sie ihnen erteilt hat, und als es rauskam, hat man ihr die Schuld an allem zugeschoben. Sie hat dann zu Resnikow noch gesagt, ein ehrenwerter Ermittlungsrichter wie er müsse begreifen, dass diese beiden Kälbchen rein gar nichts über Zionismus gewusst hätten. Sie hätten ein Geständnis ablegen wollen, sich dann aber davor gefürchtet, keine guten Antworten parat zu haben, und da habe sie ihnen mit ein paar Ideen ausgeholfen. Resnikow hat gebrüllt, sie wolle wohl andeuten, dass man hier Falschgeständnisse erpresse, und hat sie in eine Kellerzelle stecken lassen.«
    Sascha hörte ihm nicht mehr zu. Schließlich wusste er nur zu gut, dass es nicht Geschichten über Nadjeschda waren, die sie jetzt beschäftigten. Aus der Ferne war das Gurgeln eines Motors zu hören, und hinter der Kurve tauchte eine schwarze Limousine auf. Podolski bedachte den Wagen mit einem misstrauischen Blick, worauf ihr ein schrecklicher Verdacht kam: Vielleicht hatte sie nicht begriffen, welcher Art seine Position tatsächlich war? Vielleicht war er gar nicht so einflussreich, wie er immer vorgab zu sein? Das Auftauchen des Wagens brachte sie beide für einen Moment aus der Fassung, doch zugleich wurde ihre Begegnung jetzt befreit von den Rückständen der Vergangenheit – den flüchtigen Küssen auf dem Schulhof, dem Blick von der Brücke der Republik mitten in der Nacht auf ein Firmament voller Sternschnuppen. Bis jetzt hatte sie nicht gewagt, ihn direkt zu fragen, hatte erwartet, er selbst würde der Sorge ein Ende bereiten, die schon so lange an ihr nagte. Denn bereits vor mehr als einem Jahr war sie zu dem Schluss gekommen, dass man Nadja bald verhaften würde.
    Sie brauchte Antworten. Es blieb keine Zeit mehr.
    »Kannst du meinem Vater helfen?«
    Er atmete geräuschvoll aus. Danach herrschte Stille. Vielleicht erwartete er, dass sie ihn nicht zwingen würde zu antworten. Ein zweites Fahrzeug tauchte auf. Der Parkplatz erwachte. Lichtpegel huschten über die Wagendächer.
    »Es war ein sehr kluger Schachzug von dir, dich an mich zu wenden«, sagte er schließlich, halb überrascht, halb vorwurfsvoll. Offenbar hatte er mit einem Mal die Größe der Erwartungen begriffen, die sie mit ihm verband. »Genau genommen war es

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