Gute Leute: Roman (German Edition)
vorübergeht.« Er konnte den Ausdruck »Anfall« nicht ertragen, mit dem sie diese Unpässlichkeiten bezeichnete. Ohnehin war es reichlich einfältig, einen Schmerz, der in allen Gliedern hämmerte, als nicht real zu definieren. Und wo sollte er in diesem Saal Leben und Schwung finden? Schließlich war auch diese Festivität für ihn bereits vorüber, abgelegt in den Archiven der Vergangenheit. Dieses Gefühl war nicht neu: Schon in seiner Kindheit hatte er jedes Ereignis, das für regelmäßige Wiederkehr stand, mit Fäulnis in Verbindung gebracht. Sommerferien, Feiertage, Geburtstage. Einer wie er, der überall den Tod sah, konnte nicht verstehen, warum andere die Vergänglichkeit feierten.
Unterdessen hörte er seine eigene Stimme zu Fritzsche sprechen, hörte sie dessen Talent als Rundfunkansager preisen und eine geschäftliche Offerte andeuten. Wie stolz er auf seine Stimme war, die fest und gleichmütig blieb.
»Wir sehen uns in Bälde«, schlug Fritzsche vor. »Ich würde mich sehr freuen, wenn ein derart prominenter Vertreter der Milton-Group uns mit einem Besuch im Rundfunkpalast beehren würde. Wenn ich recht verstehe, intensivieren Ihr Unternehmen und die deutsche Regierung dieser Tage ihre Zusammenarbeit?«
Spielte Fritzsche auf das Geschäft mit Bauer an? Sei’s drum, das hier war ein Triumph, und zur Hölle mit den ketzerischen Überlegungen, die ihn nur schwächten. Griesgrame wie dieser Bauer mochten ihn vielleicht nicht, aber Fritzsche suchte seine Nähe, und alle, die ihm ähnlich waren, würden Vertrauen in ihn setzen.
Langsam entfernte er sich, hörte noch, wie Fritzsche das Herz der Schauspielerin vollends eroberte mit einer Geschichte über seine geliebte Mutter, die im vergangenen Jahr verschieden war, und wandte sich vorsichtigen Schrittes zur Bar. Ganz allmählich gehorchte sein Körper ihm wieder.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Man hatte verabredet, um halb zwölf an der Bar mit dem französischen Niederlassungsleiter, mit Fisk und Carlson auf das neue Jahr anzustoßen. Thomas bedauerte, dass Frederico Toppano von der italienischen Dependance in Rom nicht hatte kommen können. Er wäre stolz gewesen, den munteren Frederico mit den beiden amerikanischen Direktoren zusammenzubringen. Der Leiter der polnischen Niederlassung, Wjatscheslaw Buschikowsky – »Bischa« nannten sie ihn in Berlin –, hatte mitgeteilt, angesichts der letzten Ereignisse falle es ihm schwer, Deutschland zu besuchen, und auch das Weiterbestehen der Niederlassung sei in Frage gestellt.
Thomas, der nur begrenzte Wertschätzung für Bischa und dessen Erfolge hegte, hatte ihm umgehend geantwortet, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Polen sollten Milton nicht betreffen, da sich das Unternehmen seit seiner Gründung von der Politik ferngehalten habe. Zudem existiere ein Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Polen vom Januar 1936, weshalb Milton fest entschlossen sei, die Geschäfte wie in der Vergangenheit weiterzuführen.
Bischa hatte nicht geantwortet. Und ausgerechnet Carlson war ihm beigesprungen: »Bischa weiß – genau wie du auch –, dass es Phasen gibt, in denen die Politik alles verschlingt, auch die Geschäfte.«
Thomas hatte daraus geschlossen, dass Carlson sich bereits mit der Tatsache abgefunden hatte, die polnische Niederlassung sei Geschichte. Aber Thomas – der diese Dependance mit aufgebaut und an der Ecke Sagoda und Spitalna einen Sitz für sie gefunden hatte –, Thomas hatte nicht vor, sie kampflos aufzugeben.
Ein paar Damen saßen zu Füßen eines ockerfarbenen Gemäldes von einem Nashorn, an dessen Lippen ein Stock klebte. Thomas starrte in die blutroten Augen des Nashorns.
»Mir ist das hässliche Gerücht zu Ohren gekommen, das kleine Mädchen, das Hermann Göring geboren wurde, sei gar nicht seine Tochter«, hörte er eine von ihnen sagen.
Er warf einen Blick auf die geschwätzige Person – sie trug eine bis auf den letzten Knopf geschlossene weiße Bluse, um deren Kragen sich eine schwarze Krawatte wand. Jetzt erinnerte er sich, dass sie sich bei einem Empfang an ihn gehängt und ihm mit der Frage zugesetzt hatte, ob Milton wohl eine Strategie ausarbeiten könne, um den Einfluss ihrer Organisation, der »NS-Frauenschaft«, zu vergrößern.
»Meiner Meinung nach ist es eine Schande, ein derart niederträchtiges Gerücht überhaupt zu erwähnen. Hermann Göring ist ein wundervoller Mann«, erklang jetzt eine jugendlich-frische Stimme. »Er ist so
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