Gute Leute: Roman (German Edition)
heilsamen Veränderung kündete. Selbst in einem Schlafzimmer, in dem nur noch ein Bett stand und ein eisiger Wind durch das eingeschlagene Fenster strömte, vermochte sie jugendliche Unbeschwertheit zu entfachen. Mit einem Mal begehrte er diese schlafende barocke Schönheit. Ja, beinahe schien es ihm, als wäre er endlich auf etwas gestoßen, was sich nicht mit einer leichtfertigen Bewegung in den Tod stoßen ließ.
***
Am nächsten Morgen herrschte im Büro sonderbare Unruhe. Die Empfangsdame begrüßte ihn unter Tränen, und Thomas’ junger Assistent stahl sich davon und tat, als hätte er ihn nicht gesehen. Er begab sich zu Carlsons Büro und fand dort zu seiner Bestürzung Frau Günther im Direktorensessel, wie sie die Papiere auf Carlsons Schreibtisch durchwühlte. Jetzt war klar, dass sich ein Unglück ereignet hatte.
»Thomas!« Sie sprang auf und konnte ihre Bestürzung kaum überspielen. »Mailer ist nach New York gefahren, er hat nicht gesagt, wann er zurück ist.«
Ihr Blick suchte Halt bei ihm. Denn letzen Endes glaubte selbst Frau Günther an seine Gabe, in jeder Situation einen Ausweg finden zu können.
Doch diesmal fand er keine Worte, er hatte keine Kraft mehr, mit der Günther Sticheleien oder vergiftete Nettigkeiten auszutauschen.
»Frau Günther«, sagte er, »die Milton-Group ist dabei, ihr Geschäft in Deutschland aufzugeben. Hätten wir den Mut gehabt, den Tatsachen ins Auge zu schauen, hätten wir dies längst sehen müssen.«
Leningrad, Winter 1938
In der Nacht hörte sie die Eltern noch immer die Frage diskutieren, ob man Vernehmungsprotokolle unterschreiben sollte, auch wenn sie nicht mit den Antworten übereinstimmten, die man gegeben hatte, und ob es sich lohnte, ein Geständnis zu schreiben oder nicht. Wieder und wieder wurden dieselben Namen erwähnt: A hatte gestanden und war nur zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt worden, B hatte gestanden und war verschwunden, C hatte nicht gestanden und war erschossen worden, und D hatte nicht gestanden, doch am Ende hatten sie ihm geglaubt, dass er unschuldig war.
Ihr Vater war bereits zwei Mal vernommen worden, ihre Mutter erst ein Mal, und zu ihrer beider Überraschung hatte man sie nach Hause zurückkehren lassen, damit sie über ihre Aussage, nicht schuldig zu sein, noch einmal nachdächten. In der Zwischenzeit hatte ihr Vater Schriftstücke und Briefe zusammengetragen, die ihre Unbescholtenheit und ihre Treue zur Partei belegen sollten.
Am nächsten Tag brachte die Zeitung eine Meldung über die Enttarnung einer oppositionellen Organisation im Physikalisch-Technischen Institut. Darin hieß es, zwei Agenten des Westens, Deutsche, hätten sich mit den letzten Getreuen Pjatakows zusammengetan und unter dem Einfluss des »Vereinten Blocks« unter Führung der Verbrecher Trotzki und Sinowjew vorgehabt, »die großen Industriefertigungsanlagen zu sabotieren«. In dem nämlichen Institut sei ein Verrat von ungeheuerlichem Ausmaß zutage getreten: »Die Volksfeinde planten, Tausende zu töten um des einen Zieles Willen: Die Revolution zu beschmutzen.«
Noch am selben Tag wurde ihr Vater entlassen. Morgens um zehn kehrte er nach Hause zurück, schloss die Fensterläden im Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Ihre Mutter war mit Hausarbeiten beschäftigt, legte Pilze und Bohnen ein, kochte Marmelade aus Waldbeeren und lief seit dem Morgen in ihrer mit purpurfarbenen und braunen Flecken bedeckten Schürze umher. Das Grammophon spielte den ersten Teil von Beethovens viertem Klavierkonzert in der Interpretation von Arthur Rubinstein, den ihr Vater einen »Pianisten für sentimentale Salons« nannte. Bald würde der Trauermarsch aus der Sonate Nr. 2 von Chopin erklingen, gleich darauf das Finale, das ihr Vater als »die größte musikalische Manipulation des letzten Jahrhunderts« zu bezeichnen pflegte. Immer lauschte ihre Mutter den Stücken in derselben Abfolge: Beethoven, Chopin, Liszt, manchmal Mendelssohn, und am Ende Schumann. Jetzt nahm sie sich das Bücherregal vor, staubte das kleine Bord ab, das ihr zugestanden worden war: Schumanns Klavierzyklus »Carnaval«, Hanons Fingerübungen für den werdenden Klaviervirtuosen, einige Hefte des »Nouvelliste«, ein paar vergilbte Nummern der Zeitschrift »Nir« und ein Gedichtband von Balmont mitsamt Widmung.
Klavier spielte ihre Mutter nicht mehr. Früher hatte sie zusammen mit den Zwillingen musiziert, hatte mit Kolja an den Feiertagen ein paar leichte Duette zum Besten gegeben. Vor
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