Gute Leute: Roman (German Edition)
einigen Jahren hatten sie sogar einige Wochen auf ernsthaftes Üben verwandt und am Ende ein kurzes Stück aus der Symphonie Borodins gespielt, die Kolja »Die bösen Steppen Mittelasiens« nannte. Doch es war lange her, dass Klänge ihres Klaviers im Haus zu hören gewesen waren.
Um zwei Uhr rief sie nach ihrem Mann. »Andrjuscha. Andrjuscha, ich brauche dich!«
Er kam in den Salon geschlurft wie jemand, den man aus tiefstem Schlaf gerissen hat, in Unterhose und schmutzigem Unterhemd, die letzten silbrigen Haarsträhnen ungekämmt. Mutter wies ihn an, ein schweres Gurkenglas ans Fenster zu stellen. Seine Augen verengten sich, bis sie wie zwei winzige Rechtecke aussahen, und voller Selbstmitleid flüsterte er: »Deshalb hast du mich gerufen?«
»Ja, deshalb. Genau deshalb«, grollte sie.
Mit einem Ruck hob er das schwere Einweckglas, trug es zum Fenster und ließ es auf die Ablage krachen.
Am Nachmittag kamen Wlada und Kolja aus der Schule. Koljas hagerer und langer Körper – nicht zufällig nannte ihn Maxim Podolski den »Hungerhaken« – suchte sich gleich eine Wand zum Anlehnen. Wie immer wirkten seine Bewegungen träge und faul. Neben ihm stand Wlada, kerzengerade in seinem grauen Mantel mit den blauschwarzen Bändern an den Ärmeln und den zwei Knopfreihen an der Vorderseite wie bei den alten Offiziersmänteln. Wlada war nicht so groß wie Kolja, doch sein Körper war breit und muskulös, als forderte er zusätzlichen Platz für sich. Sein Haar war kurz geschoren, sein Gesicht von rosiger Frische, die allerdings durch den stets strengen, allwissenden Ausdruck in seinen Augen etwas verlor.
Ungewollt standen sie Schulter an Schulter, während sie ins Zimmer drängten. Offenbar hatte irgendjemand in der Schule die Zeitungsmeldung gelesen. Sie fragte sich, welche Gerüchte im Hof wohl bereits die Runde machten: Aus ihrer Schulzeit erinnerte sie sich, dass die Phantasie der Jungen zumeist mit Bestrafungen beschäftigt war – die Guillotine oder der Henkersstrick –, und wie groß war ihre Enttäuschung, als sie erfuhren, dass beinahe alle Verräter erschossen wurden.
Die Augen ihrer Mutter wanderten zwischen den Zwillingen und dem Einmachglas hin und her und begegneten dann Saschas Blick. Beide erwarteten, dass die andere sich besänne, das Schweigen brechen und die Jungen zurechtweisen würde: Kolja und Wlada, steht nicht da wie zwei Narren! Schnell, schnell, Gesicht und Hände waschen und zu Tisch! Doch Sascha wollte nichts anderes, als Kolja in den Arm nehmen, über sein Haar streichen – es sah glatt und seidig aus, fühlte sich jedoch an wie Stroh – und ihm zuflüstern, er solle sich all den Unsinn, den Wlada ihm in der Schule gesagt hatte, aus dem Kopf schlagen. Wlada könne seine eigenen Ängste nicht ertragen, weshalb er sie seinem Bruder in den Hals stopfe wie Medizin.
Am Ende war es die Mutter, die etwas sagte, und ihre Stimme klang so dumpf, als käme sie aus den Tiefen des Marmeladenglases. »Kinder, wascht euch die Hände und setzt euch an den Tisch.«
Wlada war der erste, der sich aus seiner Erstarrung löste. Er drehte sich um zur Treppe und verschwand im Dachgeschoss. Kolja dagegen lief rastlos durch die Wohnung, ließ seine Finger über die Wände gleiten, presste sein Gesicht ans Fenster, strich über die Bücher auf den Borden, über die Lehne des Sessels, betrachtete das Porträt des Helden Tschapajew – eine Kohlezeichnung, in der dessen Schnurrbart hervorstach. Ihr Vater war stolz auf ihre Begegnung an der Front im Jahre 1920 und darauf, wie er sich, gleich nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, auf den Boden gesetzt hatte, um Tschapajew aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Ihre Mutter schaute abwechselnd zur Treppe und dann zu Kolja, als erwartete sie, dass ihre Söhne endlich zur Besinnung kämen und sich an den Tisch setzten.
Sascha stieg hinauf aufs Dach. Regen prasselte herunter, dennoch mischten sich in die kalte Luft eindeutig die ersten milderen Aprilwinde. Die kahlen Äste der Linden waren von einem silbrigen Wasserschleier bedeckt, und der Himmel bis zum Horizont über dem Fluss war grau. In der Dämmerung wirkte der Himmel wie ein Tor, das sich jeden Augenblick über der Stadt schließen könnte.
Die Baumkrone der Kastanie kratzte an einigen Fenstern des Hauses. Wie viele Beschwerdebriefe waren in dieser Angelegenheit schon verfasst worden! Koslow, aus dem Institut, hatte sich bereit erklärt, die Äste zurückzuschneiden, aber ihr Vater hatte nicht
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