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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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gewagt, die Dinge zu überstürzen: Was, wenn ein Nachbar sich beschwerte? Was, wenn man sie aus ihrer Wohnung werfen würde? »Für zwei Meter kalten Fußboden, ein Fenster auf einen verdreckten Innenhof und ein kleines Eisenbett, in dem ein Mann auf mir liegen kann, aber nicht neben mir, bin ich bereit, auch ein Pferd zu heiraten«, hatte Nadja einmal geschrieben und in einem Anfall von Übermut ihren Artikel an den Chefredakteur der Istwestija geschickt, an den Genossen Nikolai Iwanowitsch Bucharin.
    Jetzt fühlte Sascha sich schutzlos ausgeliefert auf dem Dach, das sie so liebte, als durchbohrten sie von allen Seiten die Blicke der Nachbarn.
    Sie kehrte ins Zimmer zurück und entdeckte auf dem Kissen ein Stück Papier mit Wladas Handschrift: »Anständige Bürger tragen im Winter rote Socken.« Sie wurde wütend. Diese Zettelchen in der Sockenschublade waren Koljas und ihr Geheimnis. Sie zog die Schublade auf und durchwühlte die roten Socken. Am Ende fand sie in einem von ihnen einen akkurat zusammengefalteten Zettel: »Schnell klären, ob du unsere Mama sein kannst.«
    Beim Abendessen war Wlada aufgeräumt und gutmütig. Er habe mit dem Neffen des Komsomolsekretärs im Physikalisch-Technischen Institut gesprochen, einem absolut rechtschaffenen Bürger: Die Haltung der Partei zur Säuberung von den letzten Überresten der Bande um Sinowjew und Trotzki sei einleuchtend. Alle möglichen Pannen, die diese Volksfeinde in den Kohlegruben und Fabriken, ja in der gesamten Industriefertigung angezettelt hätten, würden schon bald aufhören.
    Kolja flüsterte, in der Schule habe jemand zu ihm gesagt, wenn ihre Eltern erst verhaftet wären, würde man sie in ein Waisenhaus stecken.
    Wlada schnaubte verächtlich und erklärte, das sei Gewäsch. Der Genosse Stalin habe ausdrücklich gesagt, Söhne trügen keine Verantwortung für die Vergehen ihrer Väter.
    Ihr Vater schüttelte den Kopf, als glaubte er nicht, was er hörte. Sascha bebte vor Verlangen, dieser schwache Mann möge sich endlich von seinem Stuhl erheben und seine Vaterrolle erfüllen. Sie stellte sich vor, wie er Wlada vom Tisch verbannte, wie er ihn mit dem Stock schlug und der Junge unter dem Zorn des Vaters zusammenschrumpfte.
    Wenn ihre Phantasie sich an jemandem schadlos gehalten hatte, pflegte ihr Groll schon bald zu verfliegen. Wladas pechschwarze Augen funkelten. Sie verabscheute seine Unart, vor den Eltern Ungeheuerlichkeiten zum Besten zu geben, und auch die Reue, die ihn packte, sobald er begriff, dass seine Worte Wunden geschlagen hatten.
    Jetzt flüsterte Wlada Kolja etwas ins Ohr, und auf seinem Gesicht spielte ein verschlagener und amüsierter Ausdruck. Trotz der Gefahr, die ihnen allen drohte, ließ Wlada nicht von seiner Angewohnheit. Er würde Kolja ängstigen, bis der Ärmste kaum noch Luft bekam, und danach würde er ihn mit einem ganzen Fundus trickreicher Finten, wie sie sich vor dem Unglück retten würden, wieder aufmuntern.
    In den letzten Jahren war Wlada bitterer geworden, je mehr Kolja ihre Nähe gesucht hatte, und in seine Wildheit hatte sich auch Grausamkeit geschlichen. Nachdem er im vergangenen Jahr eines Morgens über Kolja hergefallen war, ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt und so getan hatte, als wäre er vom NKWD, hatte ihr Vater eine Sperrholzwand zwischen ihren Betten errichtet. Zweimal hatte Wlada das Sperrholz in Stücke getreten. Daraufhin hatte ihr Vater Koslow aus dem Institut kommen lassen, und der hatte eine Trennwand aus massivem Holz errichtet, hatte sie fest an der Wand verschraubt und zu Wlada gesagt, sollte er die auch demolieren, würde er eine Mauer aus Beton bauen, wie im Gefängnis.
    »Wlada, wenn du nicht sofort den Mund hältst, werde ich dir wie einer Zwiebel die Haut abziehen«, sagte sie und strich mit dem Finger über ihr Messer.
    »Saitschik, das geht nun wirklich zu weit!«, wies Valeria sie zurecht.
    Ihr Vater lächelte ihr ermutigend zu, doch als er sich bewusst wurde, dass seine Frau die kleine Geste sehr wohl registriert hatte, beeilte er sich, wieder eine unbeteiligte Miene aufzusetzen.
    »Das will ich sehen …«, rief Wlada provozierend und betrachtete fasziniert das Messer. Jetzt würde er gleich noch einen frechen Satz sagen, der beweisen sollte, dass er so leicht nicht einzuschüchtern war, um dann aber zu verstummen. Ihr Vater strich Gänseschmalz auf eine Scheibe Brot und bot sie seiner Frau an, ein Trick, der zuweilen noch immer ihr Herz eroberte.
    Valeria wartete geduldig, bis

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