Gute Leute: Roman (German Edition)
und man habe ihn in Buchenwald inhaftiert. Jetzt sei er unter der Bedingung freigelassen worden, umgehend das Land zu verlassen. Ihre beiden Kinder, Max und Eva, habe man der Schule verwiesen. Sie seien jetzt nur noch zu Hause, nachdem irgendwelche Lümmel Max gezwungen hätten, den Rasen des Schulsportplatzes mit den Zähnen zu jäten. Und jetzt wolle man sie aus ihrer Wohnung werfen. Fieberhaft seien sie auf der Suche nach einem Auswanderungsort, doch niemand helfe ihnen.
Blum stierte auf den Tisch, nickte hin und wieder und stieß Rauchwölkchen aus. Thomas fragte sich, ob es nicht besser wäre, sie allein zu lassen. Vielleicht war es diese Dreierkonstellation, die ihn dazu brachte, sich ihr zu entziehen. Ohnehin ermüdete es ihn, von ihren Sorgen zu hören.
Blum warf einen fragenden Blick zum Flur, als erwartete er das Dessert. Wahrhaftig, wo steckte sie denn, Klarissa mit der Torte?
Erika sagte etwas über die Vereinigten Staaten und dass sie wegen der Kinder nicht warten könne, bis sich die Dinge hier verändert hätten. Blum nickte energisch und schloss die Augen.
»Es ist kalt hier …«, Thomas rieb sich die Hände und trat zum Kamin, und als er die Wärme spürte, traf ihn wie ein Schlag die Erkenntnis, dass Blum Erika nicht helfen würde.
Vielleicht konnte er ihr einfach nicht helfen, weil er zu vielen anderen Menschen verpflichtet war, die auf ihn angewiesen waren, vielleicht würden seine Mitteilhaber die Idee ohnehin abgelehnt haben, oder vielleicht – der Gedanke machte ihn schaudern – hatten sie ohnedies bereits entschieden, das Bankhaus an die Deutsche Bank zu verkaufen.
Ein stechender Schmerz zog durch seinen Schädel, und er schloss für einen Moment die Augen. Zeit verging. Eine Minute oder zehn. Draußen fauchte der Wind. In seiner Vorstellung zerrte er an dem Haus, würden Wände und Decken eingerissen, als wären sie aus Papier. Als er sich von seinen Phantastereien löste, sprach Erika noch immer in diesem Zuflucht suchenden Tonfall mit Blum. Wieso begriff sie nicht, dass alles verloren war?
Er entschuldigte sich und meinte, einmal nachschauen zu müssen, wie es mit dem Dessert vorangehe.
»So spät noch?«, murmelte Blum, und sein Blick blieb an der Wohnungstür hängen.
Wo steckte Klarissa nur?
Erika warf ihm einen flehenden Blick zu. Sie bat ihn um Hilfe, bestürmte ihn, sie nicht mit Blum allein zu lassen. Aber er konnte nicht länger mit ansehen, wie sie sich verzweifelt weiter an diese trügerische Hoffnung klammerte, die er selbst ihr eingegeben hatte, und verließ den Raum.
Er irrte den Flur entlang, mit halbem Ohr auf Erikas Stimme lauschend. Jetzt wurde ihm klar, von welch schicksalhafter Bedeutung das Vorhaben, sie aus Deutschland herauszubringen, für ihn war: Verzweifelt hatte er nach einem schlagenden Beweis dafür gesucht, dass Thomas Heiselberg in Berlins Korridoren der Macht durchaus noch zu Hause war. Vielleicht nicht wie einst, aber noch immer schloss er dort Geschäfte ab, versetzte Menschen in Erstaunen durch seine Fähigkeit, mit verblüffender Leichtigkeit komplizierte Angelegenheiten neu zu organisieren.
Ihre Stimme verfolgte ihn. Sie sagte irgendetwas im Zusammenhang mit ihrer Fahrerlaubnis und einem Gesetz, das ihr untersagte, durch bestimmte Straßen zu gehen. Wie viele verfluchte Geschichten hatte sie denn noch auf Lager? Er wollte sich dieser Stimme entziehen. Im Hintergrund verfluchte Blum die Ostjuden, die durch ihr Auftauchen in hellen Scharen das Schlimmste heraufbeschworen hätten.
Klarissa war nicht in der Küche, und schließlich fand er sie in Kleid und Schuhen auf dem Bett seiner Mutter, bis zum Bauch unter einer dicken Wolldecke. Wie oft hatte er diese Decke über seine Mutter gelegt, genau so? Vom Bett kamen rauhe Atemzüge, ihr Brustkorb hob und senkte sich. Ihr Kleid schnürte sie ein. Vielleicht sollte er einen oder zwei Knöpfe öffnen. Und wenn sie plötzlich erwachte? Zu seiner eigenen Überraschung geriet er nicht in Zorn über ihr Verschwinden und darüber, dass sie sich in das Bett seiner verstorbenen Mutter gelegt hatte. Er gehörte nicht zu jener Sorte Männer, die ihren toten Frauen Tempel errichteten. Jedes Mal, wenn er Frauen schwärmen hörte von dem Gerücht über den Tempel, den Göring angeblich zum Gedenken an seine erste Frau hatte errichten lassen, empfand er Scham, dass ein solcher Mann eine derart hohe Stellung in Deutschland bekleidete. Doch vielleicht war es gerade Klarissas Unverfrorenheit, die von einer
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