Gute Leute: Roman (German Edition)
die Vorstellung beendet war, und sagte dann: »Andrjuscha, vielleicht bist du so gut und spielst mit den Kindern ihr Spiel?« Sascha labte sich an der Enttäuschung ihres Vaters, der den üblichen Satz zu hören gehofft hatte: »Andrjuscha, du bist müde, vielleicht legst du dich hin und schläfst ein wenig?«
Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Kolja schwatzte unterdessen über den blauen Schlitten, den sie zum Winter immer mit hübschen Ornamenten beklebten, was sie in diesem Jahr noch nicht getan hätten, und außerdem müsse ein dickeres Seil besorgt werden.
Da fragte Wlada scheinheilig, ob Sascha sich bereits entschieden habe, welche Fächer sie an der Universität belegen wolle. »Shenja und du, ihr schreibt euch in diesem Jahr doch beide ein, oder?«
Sascha hatte einen vergifteten Rachepfeil erwartet, aber die Richtung, aus der der Angriff erfolgte, verblüffte sie. Kein Zweifel, der Bursche besaß eine seltene Begabung, Schwachpunkte bei anderen zu orten. Am Tisch verstummte das Klappern der Messer und Gabeln, und Wlada beugte sich nach unten, um seinen Schnürsenkel neu zu binden. Seine federnden Bewegungen versetzten ihr einen Schauder. In ihrer Erinnerung ragte das Universitätsgebäude turmhoch auf: Vater, Mutter und ein kleines Mädchen gehen daran vorüber, der Vater deutet darauf und sagt: »Hier wirst du lernen und lernen, bis du die klügste Frau in der Sowjetunion bist.« Und die Mutter sagt: »So klug wie Vater.« Eine Idylle.
Die Universität hatte sie in den letzten Wochen ausgeblendet: Zu klar war ihr gewesen, dass keine akademische Einrichtung die Tochter dieses Physikers Weißberg aufnehmen würde. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte sie über ihre Zukunft nach: Es würde kein Geschichtsstudium, kein Physikstudium, es würde überhaupt kein Studium geben, vielleicht eine Arbeitsstelle, und auch das war zweifelhaft. Jetzt verspürte sie den Drang, von hier zu verschwinden, Shenja zu sehen, den Abend in einem Kino oder mit Musikhören zu verbringen, vielleicht würden sie auch im Café Europa sitzen und später in irgendeinen Club zum Tanzen gehen, wo Künstler, Schauspieler und Fremde aus ganz Europa verkehrten. Dieses Zuhause erschien ihr mit einem Mal von Grund auf verfault. Vielleicht verdiente es tatsächlich, ausgelöscht zu werden.
Ihr Vater erzählte gerade, er habe heute etwas Interessantes über die Geschichte der Juden gelesen, und noch ehe seine Frau ihn unterbrechen konnte, rief Sascha: »Ich Schaf, ich bin doch heute Abend verabredet …«
Sie stand vom Tisch auf und schüttelte Koljas Blick ab, der sie des Verrates bezichtigte. Rasch zog sie das blaue Kleid an und schmückte sich mit den »kleinen Extras«, die einer von Shenjas verflossenen Freunden ihnen bei »Torgsin« gekauft hatte: ein schwarzer Seidenschal, hochhackige Stiefel, verziert mit Messingschnallen, eine Pelzjacke. Und schon schwebte sie nach draußen.
»Mama, ich treffe mich mit Shenja, vielleicht auch noch mit ein paar anderen Leuten. Ich werde mich umhören, ob man über uns redet. Es wird spät werden.«
Shenja und Sascha eilten die Treppe hinab, ins Kellergeschoss eines ehemals hochherrschaftlichen Hauses. Im Gang herrschte drangvolle Enge, waberte der Duft von Parfüm. In einem der Räume beugten sich zwei Ausländer mit streng zurückgekämmtem Haar über einen Billardtisch. Shenja winkte einem hoch aufgeschossenen Türsteher in grauer Uniform zu, und dieser bedeutete ihr, ebenfalls mit einer Handbewegung, zu ihm zu kommen. Shenja nahm Sascha energisch beim Arm, und gemeinsam drängten sie sich durch die Menge, wobei Shenja im Flüsterton über diese Flittchen herzog, die billige Fummel trugen und sich nicht schämten, in diesem Aufzug an einem solchen Ort zu erscheinen. Als sie den Türsteher erreicht hatten, begrüßte der sie herzlich, doch jetzt schien er für Shenja schon nicht mehr zu existieren.
Von Säulen getragene Arkaden unterteilten den Saal in mehrere Gewölbe, die von munteren Grüppchen bevölkert wurden. Rote Holzschemel standen vor einer Bühne, auf der ein Quartett fröhliche Tanzmusik spielte.
»Nun, du siehst, ich habe nicht übertrieben«, brüstete sich Shenja.
»Sehr beeindruckend«, antwortete Sascha, obgleich Shenjas Erzählungen den Ort farbiger geschildert hatten, als er war.
Sie ließen sich an einem Vierertisch nieder. Im Nachbargewölbe saßen mehrere junge Männer, von denen Shenja behauptete, sie seien vom Ministerium für Außenhandel. Zwei der
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