Gute Leute: Roman (German Edition)
Fröhlichkeit, die sein Gesicht ausstrahlte, und die Energie in seinen Bewegungen weckten ihr Erstaunen. »Ich habe das Vernehmungsprotokoll gelesen. Ich muss sagen, du hast schwerwiegende Taten begangen, aber ich habe schon von schlimmeren gelesen. Ich glaube, du hast dich einfach von den falschen Leuten beeinflussen lassen.«
»Du kennst mich, Saschka«, über sein Gesicht huschte ein betrübtes Lächeln, das ihr aufgesetzt erschien. »Wir können ja sans façon miteinander reden, ich war schon immer ein leicht zu beeinflussender Mensch.«
»Ich erinnere mich im Gegenteil, dass Menschen sich von dir haben beeinflussen lassen«, sagte Sascha. Auch dass er nicht davon abließ, seine Worte mit französischen Versatzstücken zu würzen – eine Sprache, die hier nicht eben beliebt war –, erschien ihr sonderbar. »Vielleicht bist du dir über die Natur dieser Organisation nicht im klaren. Wir sind nicht das Büro des staatlichen Anklägers der Sowjetunion. Auch wenn wir von einer begangenen Straftat erfahren, sind wir nicht verpflichtet, dieses Wissen an andere Stellen weiterzugeben – falls wir ehrliche Anzeichen von Reue sehen, selbstverständlich.«
»Ich verstehe das sehr gut, und daher habe ich bislang ja auch kooperiert«, antwortete er und inspizierte den Raum mit gelangweiltem Blick.
Erneut machte ihr etwas zu schaffen: Muraschowski verhielt sich, als spielte er eine Partie Dame mit einem alten Freund. »Also, wenn du zum Beispiel in dem Protokoll aussagst, bei einer Zusammenkunft im Jahre 1932, im Haus des Bürgers Konstantin Varlamow, hätten die Mitglieder der Leningrader Gruppe behauptet, der Kampf gegen die Kulaken habe zu schrecklichen Grausamkeiten geführt, im ganzen Land seien die Leichen von Bauern zu finden gewesen und die Partei habe das Brot aus ihren Dörfern fortgeschafft, während die Leute dort verhungerten – dann wird dein eigener Standpunkt nicht klar, dann scheinst du dabei gesessen zu haben wie ein Geist.«
»Du kennst mich, Saschka, meine Kleine«, Muraschowski streckte sich, als wäre er soeben aus einem erquickenden Schlaf erwacht. »Ich war tatsächlich bloß ein dienstbarer Geist, niemand hat mir Gehör geschenkt.«
»Ich bin in dieser Angelegenheit nach wie vor unschlüssig.« Sascha überging diese letzte Bemerkung. »Das eigentliche Problem an dem Protokoll ist, dass deine Vergehen keine Geschichte zu haben scheinen, weshalb dir selbst nicht immer klar ist, wann du dich mit den Volksfeinden zusammengetan hast. Um ein verlässliches Geständnis zu schreiben, ist es immer besser, von einem Anfangspunkt auszugehen.«
»Und wo ist dieser Anfang?«
»Es gibt alle möglichen Anfänge. Meiner Ansicht nach ist der am genauesten datierte im Jahre 1924 zu finden. Du warst damals an der Arbeiterfakultät der Universität an einer Manipulation der Trotzkisten beteiligt.«
»Das steht im Protokoll, nicht wahr?«, sagte er.
»Im Protokoll heißt es, du hättest nicht mit der Opposition gestimmt, hättest sogar agitiert, damit die Trotzkisten unterlägen.«
»Ja, ich erinnere mich sehr gut an jene Tage«, erwiderte Muraschowski und spreizte seine gewaltigen Hände auf dem Tisch. »Unglücklicherweise siegten die Oppositionellen bei der Abstimmung, aber auch nur, weil die meisten Genossen dort in Wahrheit keine Arbeiter waren, sondern kleinbürgerliche Individualisten, die sich in die Zelle eingeschlichen hatten.«
»Du hast nicht mit der Opposition gestimmt?«
»Eben nicht, Genossin Weißberg«, diese frohlockende Stimme kam zwar aus seiner Kehle, war jedoch nicht die seine. »In jenen Tagen stand ich noch unter positiveren Einflüssen: Nachts las ich die Schriften Lenins und am Tage tat ich alles, was in meiner Macht stand, für den Sieg der Partei. Ich erinnere mich sogar, dass ich, nachdem die Abstimmungsergebnisse bekannt geworden waren, nächtelang nicht schlafen konnte …«
Dann trat Stille ein, und Muraschowski wandte den Kopf und betrachtete im Spiegel der Schranktür prüfend seinen Schnauzbart. »Vielleicht kann ich den Ursprung des Irrtums erklären«, fuhr er plötzlich herum und straffte den Oberkörper: »Ich habe Nadka, deinen Eltern und allen anderen Dinge erzählt, die sich nie zugetragen haben, nur um Gefallen in ihren Augen zu finden. Aber jetzt wollen wir doch, dass ich die Wahrheit sage, oder?«
»Die Mitglieder deiner Zelle berichten in ihren Aussagen, du hättest zugunsten der Opposition agitiert.«
»Dann lügen sie«, entgegnete Muraschowski
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