Gute Leute: Roman (German Edition)
eine Augenentzündung, er habe seine Frau seit über einem Monat nicht mehr gesehen und auch keine Pakete erhalten, man habe ihn auf einen Holzschemel gesetzt und ihm verboten aufzustehen, er habe in der vergangenen Woche zehn Stunden vor einer Wand gestanden und eigentlich gedacht, dass das Sitzen leichter als das Stehen sei, aber im Stehen könne ein Mensch seine Schmerzen wenigstens lindern und das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern. »Genossin Weißberg, ich hatte mein Geständnis im großen und ganzen bereits vorbereitet«, beschwerte er sich, »und dann kamen sie plötzlich mit der Forderung, ich solle gestehen, dass ich an der Universität ein Netz gesponnen hätte mit dem Ziel, die öffentliche Meinung gegen die Partei aufzuhetzen.«
»Und einen solchen Plan hat es nicht gegeben?«, fragte sie. Es war klar, dass er sie auf die Probe stellte: Beschuldigte pflegten, um sich einzuschmeicheln, den Ermittler mit »Genosse« anzureden, nur um gleich darauf Beschimpfungen und Schläge zu ernten. Ossip Lewajew hatte dieses Ritual gewiss auch durchgemacht und suchte jetzt nach einem Anhaltspunkt, ob er sein Schicksal in ihre Hände legen konnte.
»Vielleicht.« Seine Augen starrten sie an, als wollten sie ihrem Gesicht die richtige Antwort entreißen.
»Sie müssen sich schon entscheiden, ob es ihn gegeben hat oder nicht, wir wollen keine Falschaussagen.«
Er hüstelte, wartete auf einen Fingerzeig. Es fiel ihr schwer, in das Gesicht dieses jungen Mannes zu schauen, der ihrer Mutter so sanfte Blicke entlockt hatte, den sie am Strand geküsst und dessen Zunge so süß geschmeckt hatte, und jetzt wirkte er wie ein Haufen loser Glieder. Schließlich murmelte er: »Ich glaube nicht, dass es einen solchen Plan gegeben hat. Zum Teufel, mein armer Rücken.«
Er hatte sich diese Marotte alter Leute zugelegt, den eigenen Körperteilen Attribute beizugeben, um ihre Schwäche zu betonen. »Dann sagen Sie ihnen, dass es keinen Plan gegeben hat, obgleich, wenn sie fragen, scheinen sie offenbar über handfeste Beweise zu verfügen«, gab Sascha zu bedenken.
»Es kann sein, dass da etwas war und ich mich nicht erinnere«, beeilte sich Lewajew zu sagen. »Seit dem Tag, an dem ich verhaftet worden bin, erinnere ich mich schlecht, und meine Zukunft sehe ich nur als schwarze Blätter, die am Horizont rascheln, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Natürlich verstehe ich das«, erwiderte sie, »die Zukunft des Menschen liegt im Dunkeln. Was aber die Vergangenheit anbelangt, herrscht Gewissheit: Der Literaturkritiker Brodski hat schließlich in seinem Geständnis geschrieben, auf der Reise nach Tiflis im Jahre 36 hätten alle am Grab von Gribojedow gestanden, und Sie hätten gesagt, die Verfolgung von Dozenten an der Universität Leningrad sei eine Schande.«
»Hat Brodski das gesagt? Ich erinnere mich nicht, so etwas gesagt zu haben«, murmelte Ossip Lewajew. Er kam von seinem Stuhl hoch und tastete nach seiner Hose, deren Knöpfe entfernt worden waren.
»Brodski hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Vielleicht ist es an der Zeit, auch einmal das Ihre zu bemühen?«
»Ja, Sie haben recht«, sagte Lewajew. »Ich meinte auch nur, wenn ich mich nicht an alles genau erinnere, wie soll ich dann die Einzelheiten skizzieren?«
»Also wirklich, Ossip Borisowitsch!«, wies sie ihn zurecht und erhob sich ebenfalls. Ihr war klar geworden, dass jeder weitere Verbleib in diesem Zimmer ihr Mitleid mit ihm verringern würde. »Das ist doch ganz einfach. Es gibt nicht viele Dichter mit einer Vorstellungskraft wie der Ihren. Wenn Sie wirklich darauf bestehen, sich nicht an die Einzelheiten zu erinnern, dann planen Sie die Konspiration ein zweites Mal, überlegen Sie, welche Maßnahmen Sie ergreifen, an welche Personen Sie sich wenden würden, denn dies sind allem Anschein nach die Dinge, die Sie getan haben …«
»Eine großartige Idee!«, rief Lewajew. Er setzte sich wieder und rieb sich die Augen mit seinen schmutzigen Fingern. »Aber mein Körper ist wie gelähmt. Ich kann nicht einmal meine armen Finger bewegen, könnte ich vielleicht einen kleinen Aufschub für ein bisschen Schlaf bekommen? Es ist besser, ich bin frisch und ausgeruht, wenn ich das Geständnis verfasse.«
»Laut den Bestimmungen können wir uns nur dann, wenn ein erster Entwurf vorliegt, auch in anderen Belangen kooperativ zeigen«, sagte Alexandra und ging zur Tür.
»Werden Sie mein Geständnis lesen, wenn ich es fertig habe?«, rief ihr Lewajew nach.
Weitere Kostenlose Bücher