Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
kühl. »Und was mich betrifft, so bin ich fertig mit Lügen.«
    »Wir wollen selbstverständlich keine Lügen, nur aufrichtige Geständnisse.«
    » Chère Madame , wenn es deine Güte erlaubt, könnte ich vielleicht eine Tasse Tee bekommen, mein Hals tut schon seit Tagen weh.«
    »Selbstverständlich«, erwiderte sie, erhob sich, schlug gegen die Tür und bat den Wachposten um zwei Tassen Tee. Als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, betrachtete sie ihn von hinten. Sein Rücken, sein Hals und sogar sein Schädel wirkten so massig, als hätte eine verborgene Macht seinen Körper auch in der Haft geschützt.
    »Sascha, in den letzten Monaten sind wir einander nicht begegnet, aber noch bevor ich verhaftet wurde, habe ich gehört, dass du Karriere gemacht hast und dir hier Komplimente von den allerhöchsten Stellen zuteil werden.«
    »Ich mache nur meine Arbeit«, wiegelte sie ab. Errötete sie etwa? »Und ich habe wirklich das Gefühl, hier eine Wahrheit entdeckt zu haben, die meinen Augen lange verborgen war.«
    Der Wachposten klopfte und trat dann mit den Teetassen zu ihnen.
    »Ja, es hat viele gegeben, die die Wahrheit vor unseren Augen verborgen haben«, pflichtete Muraschowski bei und betrachtete konzentriert seine Teetasse. »Wir haben unschöne Dinge getan, nous avons trahi notre peuple et ses droits .« Er hielt einen Zuckerwürfel zwischen den Zähnen, ließ ihn scheinbar unbeabsichtigt in den Tee fallen und rührte diesen mit dem bloßen Finger um.
    Sascha stieß einen Schrei aus. Er lächelte. Sie spürte kalte Stiche in ihren Magen. »Bist du verrückt geworden?« Voller Grauen starrte sie auf die Tasse, stellte sich vor, wie er ihr gleich seinen verbrühten Finger zeigen würde.
    Gemächlich zog er den Finger heraus, hielt ihn sich an die Lippen und blies leicht darauf. »Saschka, meine Liebste, das ist doch nur ein kleiner Trick, den ich von dem internationalen Großmeister Kapablanka bei seinem Besuch in Moskau gelernt habe. Erinnerst du dich nicht, dass ich ihn beim ersten internationalen Schachturnier beinahe geschlagen habe?« Er reckte den krebsroten Finger in die Höhe. Sie schloss die Augen und fuhr zurück.
    »Wladimir Wladimirowitsch«, rief sie, »derlei Betragen wird dir nicht helfen, vielleicht verstehst du einfach nicht die Schwere …«
    »Verstehe ich offenbar wirklich nicht, ich bin ja durchaus bereit, ein Geständnis zu schreiben«, meinte er unschuldig. »Wir suchen nur gemeinsam nach dem Anfangspunkt.«
    »Vielleicht schreibst du einfach, und ich lese es hinterher«, sagte sie und dachte: Noch heute Abend werde ich ein schriftliches Dokument in den Händen halten, und bei dem Treffen mit Stjopa kann ich von diesem Erfolg berichten – dem Geständnis des letzten Verräters aus der Leningrader Gruppe. Und dann wird er vielleicht endlich bereit sein, sich an den Obkom zu wenden.
    »Du weißt, dass ich unter einer Schreibschwäche leide, ich würde es vorziehen zu reden, und du schreibst. Ich kann dir sogar die ersten Zeilen aufsagen, wenn du mir diesen kleinen Kotau vor einem großen Dichter gestattest: ›Und lange wird vom Volk mir Liebe noch erwiesen, weil mein Gesang erweckt Gefühle echt und tief, weil ich in grauser Zeit die Freiheit kühn gepriesen und Gnade für Gestürzte rief …‹«
    Sie fixierte ihn, hielt nach einem entwaffnenden Lächeln Ausschau, das die soeben zitierten Verse Puschkins bagatellisieren sollte, denn wenn nicht – war er des Todes. Aber sein Gesicht blieb verschlossen.
    Wieder beugte sie sich über den Tisch, ein Unheil verheißendes Gefühl schlich sich in ihre Bewegungen, instinktiv merkte sie, dass sie dabei war, einen schweren Fehler zu begehen, und dennoch näherte sie sich ihm, als wollte sie einer irrationalen Angst die Stirn bieten. Sie blätterte in dem Ordner und suchte nach leeren Seiten, während er weiter gegen seinen Finger pustete, der inzwischen von einer großen weißlichen Blase umhüllt war.
    Plötzlich schloss sich seine Hand um ihr Handgelenk. Im ersten Augenblick weigerte sie sich zu glauben, was ihr gerade geschah – das ist ein Tagtraum, bitte, wach sofort auf, immer schon hatte man ihr gesagt, sie sei verträumt –, aber der Griff der Hand wurde noch fester. Die Fingernägel gruben sich in ihre Haut. Sie schaute auf seinen Mund, der vor Wut verzerrt war und um den sich Dutzende von Fältchen zeigten. Dennoch schien ihr, als blickten seine Augen sie voller Zuneigung an. Sie spürte, wie er an ihrem Arm zog, und ihr Blick ruhte

Weitere Kostenlose Bücher