Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
auf seiner Teetasse. Mit seiner freien Hand goss er ihr den brühendheißen Tee über den Handrücken. In ihren Ohren gab es eine Art zerplatzendes Geräusch, das sie an bratende Eier in einer Pfanne erinnerte – hatte er es erzeugt? Sie wusste es nicht. Vielleicht war dies ein weiterer seiner Taschenspielertricks? Sie atmete tief ein, doch genau dieser Atemzug löste sie aus dem Schockzustand, der den Schmerz bisher unterdrückt hatte, und konzentrierte ihr ganzes Empfinden auf die brennende Hand: Im Inneren der Hand stampfte der Schmerz und schien die Knochen zu zermalmen.
    Muraschowskis Gesicht näherte sich dem ihren: »Warum schreist du jetzt nicht, du kleine Hure? Plötzlich schweigst du? Du hast ihnen Nadkas Gedichte gegeben und uns alle verraten, und danach wagst du noch, uns einen nach dem anderen zu vernehmen? Du hast dich an Nadka gerächt, an deren Genie du, auch wenn du noch zweihundert Jahre schriebest, niemals heranreichen wirst. Wir alle haben deine armseligen Gedichte gelesen: ›Sie schlummert auf der Straße, zugeknöpft in des Schnees Weiße.‹ Eine Dame von Welt bist du hier geworden und schreibst Geständnisse für Menschen, denen Socken zu stricken du nicht einmal würdig wärest. Jüdische Huren, man hätte euch alle in Malaja Arnautskaja begraben sollen, damit ihr einander ausraubt …« Er stieß ihr seinen Atem ins Gesicht, der dampfte wie der Tee. »Wo sind deine Eltern?«
    Ein Schmerzstrom kreiste in ihrer Hand.
    »Wo sind deine Eltern?«
    Sie sehnte die Ohnmacht herbei.
    »In welchen Gulag hast du sie gesteckt, sind sie überhaupt noch am Leben? Und wo sind die Zwillinge? Wo ist der Junge, den du im Arm gehalten und gestreichelt hast, wo ist er?«, brüllte er.
    Der Raum füllte sich mit Menschen. Hände legten sich auf sie, doch er hielt sie noch immer umklammert und schrie: »Denkst du, es kümmert mich zu sterben?« Sie hörte Schreie und Kreischen, aber Muraschowskis Brüllen übertönte alles im Zimmer: »Hast du mir denn irgendetwas auf der Welt gelassen?«
    Hinter ihm sah sie die hohe Stirn Resnikows auftauchen, puterrot und hässlich. Weitere Hände drückten auf ihre verbrühte Haut, kneteten sie. Sie hörte einen Schreckensschrei in Sopranlage – die Gelegenheitsopernsängerin Natalja Perikowa. Sah einen Rachen sich aufsperren und gelbe, fleckige Zähne sich auf Muraschowskis Hals zu bewegen, wollte für einen Moment schreien: »Pass auf, Wladimir! Hinter dir!« Die Zähne gruben sich in seinen Hals, und plötzlich sah sie die geröteten Wangen desjenigen, dem sie gehörten – Stepan Kristoporowitsch.
    In einem Aufflackern von Klarheit begriff sie, dass man sie noch immer nicht befreit hatte, dass seine Finger ihre Hand noch immer wie Handschellen umschlossen hielten. Er war der stärkste Mann in ganz Russland. Hände fassten sie an Hüfte und Bauch, zerquetschten ihre Brüste. Wie durch einen Nebel sah sie rostrote Koteletten hinter Muraschowski aufspringen. Das Gesicht ihres Mannes war zu einer Grimasse des Wahnsinns verzogen, sein Mund zu einem schwarzen Abgrund aufgerissen: Sie selbst ist eine kleine Puppe, schreitet über seine Zunge in diesen Abgrund. Wie verzerrt sein Gesicht ist. Ob es überhaupt möglich war, einem derart verzerrten Gesicht jemals wieder seine ursprüngliche Form zurückzugeben? Schreie, Pfiffe, Brüllen, ein Schuss, ein schreckliches Röcheln, weitere Schüsse, der beißende Geruch von Schießpulver, und jetzt wurde sie gepackt und nach draußen getragen, auf den kalten Fußboden gelegt. Verschwommen sah sie, wie Natalja Perikowa ihren von Blutspritzern gepunkteten grauen Seidenschal zerriss. Man berührt ihre Hand, verbindet sie. Die glatte Seide des Schals legt sich über die Haut, sie schreit und windet sich. Man drückt sie auf den Boden und sie verstummt, hebt den Blick zum weißen Licht der Flurlampen, das jetzt grell und blendend geworden ist. Gesichter schieben sich davor, sie murmelt nur, man möge ihr nicht die Sonne verstellen.

Berlin – Warschau, Sommer 1939 – Winter 1940
    Sie saßen in einem sonnenüberfluteten, mit Kieselsteinen belegten und von leuchtend grünen Rasenflächen gerahmten Gartenlokal. Kinder und Hunde tobten herum, und ein mit den Buchstaben NSV beschrifteter roter Drachen trieb am blauen Sommerhimmel. Durch die Äste der Robinien – seine Mutter hatte in ihnen immer die Schönheit der Unschuld gesehen und im Frühling stets eine weiße Blüte an seinem Hemdkragen befestigt, die ihm Glück bringen

Weitere Kostenlose Bücher