Gute Leute: Roman (German Edition)
sich die Sahne von der Lippe, worauf Bauer sich demonstrativ von ihm abwandte und Thomas vorwurfsvoll der bewussten Vernebelung zieh: Bei Milton habe man doch Abteilungen für die jeweilige Nationalseele und nicht etwa für die Rasse unterhalten. Außerdem habe man sich dort aller möglichen psychologischen Theorien bedient. Thomas widersprach, war aber auf der Hut vor Bauers hellen Augen. Weller bedachte ihn mit einem verwunderten Blick: »Wieso spielen Sie denn nur mit Ihrem Apfelstrudel und kosten nicht einmal davon, wo ist Ihr Appetit geblieben?«
Wohl oder übel spießte Thomas ein Stückchen Strudel mit der Gabel auf und führte es zum Mund. Der Geschmack der überzuckerten Äpfel war ihm zuwider, und er nahm sofort einen Schluck aus seinem Glas. Weller stellte ihn auf die Probe, weil er in Erwägung zog, ihm eine Stelle anzubieten. Vermutlich wussten alle um den Tisch Versammelten, dass er zurzeit ohne Beschäftigung war. Das Wort »arbeitslos« ekelte ihn so sehr, dass er es nicht einmal sich selbst gegenüber aussprach. Die nicht enden wollenden Stunden des Nichtstuns hatten ihn gelehrt, dass die Albträume des Tages schlimmer sein konnten als die der Nacht.
Bauer war mit Sicherheit zu diesem Treffen gerufen worden, weil er in der Vergangenheit mit Milton zusammengearbeitet hatte. Er sollte wohl darauf achtgeben, dass Thomas bei der Schilderung seiner Tätigkeit für das amerikanische Unternehmen bei der Wahrheit bliebe. Davon abgesehen konnte Bauer ihn einfach nicht leiden und würde jede Anstrengung unternehmen, um eine Zusammenarbeit zwischen Weller und ihm zu verhindern. Thomas sah Bauer mitfühlend an, als bedauerte er dessen Borniertheit aufrichtig, und konterte dann: »Und an allem soll die jüdische Psychoanalyse schuld sein! Ich bitte Sie, meine Herren … Die Juden haben deutsche Ideen kopiert – Nietzsche, die ›Bildung‹ und anderes mehr – und sie entstellt, der Propagandaminister hat immerhin schon 1933 gewarnt, die Juden dürften nicht zu den Exegeten des Deutschtums werden … Aber die deutschen Modelle von Milton waren für Vermarktungsunternehmen aus ganz Europa ein Objekt der Begierde. Im Grunde genommen hat Milton nichts anderes offeriert als eine Art ›Bildung‹ für erfolgreiche Geschäfte. Jedes Unternehmen muss, um besser zu werden, verstehen, dass es sein Produkt einem nationalen Menschen anbietet, der sich präzise charakterisieren lässt … Und genau zu diesem Zweck hat die Forschungsabteilung von Milton den Unternehmen einen umfassenden wissenschaftlichen Apparat an die Hand gegeben!«
Der Jungspund meinte hämisch, diese Idee klinge ihm ein wenig zu phantastisch. Thomas nahm in aller Seelenruhe einen Schluck von seiner Limonade. Besser, sie merkten gleich, dass nicht jede Äußerung eine Antwort wert war. Wellers Gehilfe murmelte etwas Abfälliges über die Amerikaner, und alle nickten. Thomas spürte, dass sich zwischen dem Milchgesicht und Bauer eine Front gegen ihn aufzubauen drohte. Schließlich verachteten sie beide seine Arbeit im Dienste des Kapitalismus, waren andererseits jedoch auf das Wissen angewiesen, das in dem amerikanischen Unternehmen gesammelt worden war. Es war daher an ihm, das Deutschtum zu betonen, das seiner Arbeit zugrunde gelegen hatte. Doch ohnehin waren der junge Kläffer und Bauer nicht mehr als Schatten bei diesem Treffen.
Forsch schob er sich ein großes Stück Strudel in den Mund, als hätte ihn mit einem Mal ein Heißhunger auf diese verfluchten Äpfel befallen, und Weller nickte ihm aufmunternd zu. Thomas beugte sich zu ihm hinüber und erklärte ihm in herzlichem Tonfall – der eine gegenseitige Nähe signalisieren sollte, die ihren Ursprung in gemeinsamer Bildung, guten Manieren und einer genauen Sicht auf die Welt hatte, Dingen mithin, die naturgemäß den anderen verborgen bleiben mussten – die Grundlagen seines Modells: »Als wir Seele sagten, meinten wir damit die Rasse und nicht irgendwelche psychologischen Spitzfindigkeiten. Wenn die Polen geglaubt haben, es sei von der Seele die Rede, na, dann wohl bekomm’s! Da haben Sie auch schon ein hervorstechendes Charakteristikum des polnischen Menschen: Die unheilvolle Verquickung von Dünkel und Halsstarrigkeit. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Polen tatsächlich Rousseaus Rat gefolgt sind: ›Ihr werdet die Großmächte kaum daran hindern können, euch zu verschlucken, aber sorgt wenigstens dafür, dass sie euch nicht verdauen können.‹ Das Milton-Projekt wurde
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