Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
niemandem außer ihren Vorgesetzen darüber zu sprechen. Weller war ganz aus dem Häuschen, als er Thomas eröffnete, von Weizsäcker werde die Diskussion leiten. »Verstehen Sie? Das heißt, dass das Auswärtige Amt offiziell hinter Ihrem Schriftsatz steht … Ein kolossaler Erfolg!« Weller, der Thomas rekrutiert hatte, betrachtete das große Interesse für das Modell als persönlichen Erfolg und fühlte sich als Vater eines Ereignisses von historischer Tragweite.
    Am Morgen des Seminars wachte Thomas um vier Uhr auf. Er blieb noch eine Weile im Bett liegen und feilte an den ersten zehn Sätzen des Vortrags, den er halten würde. Wenn ihm eine Formulierung besonders gut gefiel, wiederholte er sie mehrere Male. Selbstverständlich schrieb er nichts auf: Schicksalhafte Reden hatte man zu memorieren. Um fünf Uhr wusch er sich mit kaltem Wasser. Die Zeit im Bad nutzte er dazu, sich über die letzten Anweisungen klar zu werden, die er Weller geben würde, bevor die Teilnehmer der Runde im Auswärtigen Amt einträfen. Als er aus dem Bad kam, stand Klarissa bereits im Morgenmantel in der Küche und bereitete das Frühstück.
    »Hattest du Zweifel, dass ich rechtzeitig wach werden würde?« Sie lachte und wies auf seinen Stuhl. »Die kleine Klarissa steht zwar nicht gern früh auf, das stimmt, aber an einem solchen Tag?«
    Der Duft der gebratenen Eier weckte seinen Appetit. Während des Essens plauderte sie fröhlich – ihr Gesicht verströmte den Duft von Seife und Zitronen – und erzählte ihm von den amüsanten Begebenheiten auf ihrer letzten Reise mit den Frauen vom NSV: Die Bedürftigen in Deutschland seien wirklich zu komisch, da gebe es Leute, die nichts außer Brot und Milch im Haus hätten und dennoch unbedingt etwas spenden wollten.
    Er hörte zu, ließ ab und an eine Bemerkung fallen und war ihr dankbar, dass sie versuchte, seine Anspannung zu vertreiben. Als sie mit dem Frühstück fertig waren, trug Klarissa das Geschirr ab, während er sich die erste Pfeife seit Monaten ansteckte.
    Um sechs Uhr nahm sie auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz, machte einen geraden Rücken und schlug die Beine übereinander, ehe er sich erhob und ihr seinen Vortrag zu Gehör brachte. Nicht ein Muskel rührte sich in ihrem hübschen Gesicht, bis er geendet hatte. Dies war seine ausdrückliche Bitte: kein ermutigendes Lächeln, kein bestätigendes Kopfnicken, nichts. Schließlich würden zu dem Seminar vor allem Personen kommen, in deren Augen die ganze Idee ungehörig war und sich zu einer Bedrohung für ihr Amt oder ihre Behörde auswachsen konnte. Sie würden nach Fehlern in seinem Modell suchen und ihren Vorgesetzten hinterher berichten, das Auswärtige Amt habe keine Ahnung von den Polen. Am Ende seiner Ausführungen lenkte Klarissa seine Aufmerksamkeit auf einige Sätze, deren Diktion ihr zu polemisch geklungen hatte. In dieser Hinsicht waren sie unterschiedlicher Meinung: Seiner Überzeugung nach war Polemik absolut erforderlich, wollte man eine neue Idee vorantreiben.
    Er wollte in sein Schlafzimmer zurückkehren, um sich anzukleiden, doch Klarissa rief ihn zurück: »Thomas«, flüsterte sie mit glänzenden Augen, »es ist sonnenklar, dass diese wunderbare Rede sie zutiefst ergreifen wird, nicht einmal die Reden des Führers können ihr das Wasser reichen. Und es ist nicht nur die Rede, verstehst du. Ich habe das Modell gelesen. Du leistest etwas Großes für Deutschland.« Sie errötete leicht, als verstünde sie, dass dieses Pathos nicht zu ihr passte, und küsste ihn auf die Stirn.
    In dem Moment, in dem ihre Lippen sich von seiner Stirn lösten, sehnte sich sein Körper erneut nach ihrer Berührung. In möglichst amüsiertem Ton sagte er: »Genug, genug, meine Liebe, was es braucht, um einen hübschen Vortrag zu halten, ist ein wenig Unbeschwertheit. Sag mir lieber, dass der heutige Tag nicht schicksalhaft ist.«
    Sie antwortete nicht, tänzelte nur auf ihren nackten Füßen mit den rot lackierten Nägeln zum Sofa, auf dem sie sich bei ihren Vorbereitungen für die Vorlesungen an der Universität auszustrecken pflegte. Zuweilen drängte es ihn geradezu, ihr zu Willen zu sein, jede Bewegung und jede Äußerung, die er tat, nach ihr zu richten. Dennoch entzog sich ihr Wollen seinem Zugriff. Nur selten war sie verärgert, doch sein Beharren, ihr alles recht zu machen, stimmte sie traurig. Selbst bei der Reparatur des Fensters im Zimmer seiner Mutter schien ihm, dass die Leichtigkeit sie empörte, mit der er ihr

Weitere Kostenlose Bücher