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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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wenige Briefe geschrieben. Nach einem Jahr war klar, dass das russische Werk der Firma Junkers riesige Verluste bescherte und dass das Unternehmen nicht umhin kam, seine Dependance der sowjetischen Regierung zu überlassen. Sein Vater kehrte zurück, begann wieder in dem Werk in Dessau zu arbeiten und wurde einige Monate später entlassen. Von da an hatte er sich mit erbärmlich bezahlten Gelegenheitstätigkeiten über Wasser gehalten und die Angebote seines Sohnes, ihn zu unterstützen, stets brüsk zurückgewiesen. Irgendwann war er der NSDAP beigetreten und hatte die meiste Zeit mit seinen neuen Kameraden verbracht. Seine Mutter und Frau Stein hatten nur gesagt, endlich sei der Mann wieder zu dem Pöbel zurückgekehrt, von dem er abstamme.
    Auf der Beerdigung im Jahre 1930 hatte Thomas, von einigen Dutzend SA-Männern umringt, am Grab gestanden und pathetische Trauerreden vernommen. Die Aufopferungsbereitschaft seines Vaters für die deutsche Volksgemeinschaft wurde gepriesen, seine Treue zu den Kameraden (er selbst hatte vor seinem Tod darum gebeten, neben Horst Wessel beigesetzt zu werden, seinem jungen Freund, der an den Folgen eines Überfalls gestorben war). Erst bei der Trauerfeier hatte Thomas erkannt, dass sein Vater noch am Ende seiner Tage voller Tatendrang gewesen war und gute Kameraden gehabt hatte, und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Genugtuung. Er dankte den Trauerrednern, als wollte er seine Hochachtung zum Ausdruck bringen für die Zuneigung, die sie für seinen Vater gehegt hatten. Zum Abschluss der Trauerfeier hatten sie alle gemeinsam ein Potpourri aus Kampfliedern der Partei gesungen.
    Die zu dem Seminar Geladenen hatten um den mächtigen Mahagonitisch Platz genommen. Jeder von ihnen hatte eine Mappe vor sich, in der sich eine Kopie des Schriftsatzes, ein Schreibblock von exzellenter Qualität und zwei perfekt angespitzte Bleistifte befanden. In einem kurzen Grußwort von Weizsäckers an die Teilnehmer betonte dieser, das Kolloquium habe das Ziel, schöpferische Ideen zu sammeln für den Fall, »dass Deutschland tatsächlich gezwungen sein sollte, Krieg gegen Polen zu führen« (der Mann war wirklich bemüht, ein gewisses Maß an Vorsicht zu wahren). Danach erteilte er Thomas das Wort.
    Schon nach einigen Minuten spürte er, dass die Anwesenden – auch die Gegner des Modells, die er sogleich ausgemacht hatte – sich beeindruckt zeigten von der Vielschichtigkeit und dem Stil seines Vortrags. Jetzt erlaubte er sich, vermehrt Ironie einfließen zu lassen, zitierte historische Anekdoten, als gäbe es nichts, was ihm mehr Vergnügen bereitet hätte, als diesen Vortrag zu halten. Als er geendet hatte, klopften die Anwesenden anerkennend mit der flachen Hand auf den Tisch, doch sobald der Beifall verstummt war, erhob sich der Vertreter von Goebbels’ Propagandaministerium und bat um das Wort.
    »Bei aller Wertschätzung für unseren verehrten Disziplinenmischer und seine fesselnde Rede«, begann er sarkastisch, »aber das vierte Kapitel des Ihnen allen vorliegenden Dokuments, das sich mit der Vergangenheit des polnischen Volkes befasst, ist ein Skandal. Der Herr schreibt, als hätten diese Menschen überhaupt eine Vergangenheit. Dabei ist doch sonnenklar, dass es so etwas wie einen ›nationalen polnischen Menschen‹ nicht gibt.«
    »Alle Slawen sind ein Volk«, ließ sich eine Stimme vom Ende des Tisches vernehmen.
    Der Vertreter des Stabs von Rudolf Heß verkündete, er teile diese Ansicht, und fügte hinzu, auch innerhalb der Partei habe dieses vierte Kapitel Missfallen erregt. Er habe sogar empfohlen, die Schrift ohne dieses Kapitel vervielfältigen zu lassen. »Unsere teure Geschichtswissenschaft, die hier in Deutschland ihre Geburtsstunde erlebte, darf nicht durch derartiges Geschwätz korrumpiert werden. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich zitieren, was mir der Stellvertreter des Führers gesagt hat: ›Es gibt echte Völker mit historischen Wurzeln, und jeder anständige Historiker kann Beweise vorlegen für die direkte Verbindung zwischen dem arischen Deutschen und der alten nordischen Rasse und den Deutschrittern. Ginge es nach diesem Modell, könnten auch vier Affen beschließen, sie seien Nachkommen Julius Caesars, um alsbald Rom für sich zurückzufordern.‹ Die Slawen sind dieser ganzen aufwendigen Studie nicht wert, man muss nichts von ihrer Geschichte und ihrer Mentalität verstehen, um sie mit harter Hand zu führen.«
    »Meine Herren«, begann Thomas und dankte bei sich Weller

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