Gute Leute: Roman (German Edition)
schließlich nachgegeben hatte.
Manchmal stellte er sie sich vor, wie sie im Bett seiner Mutter erwachte, auf dem Gesicht ein Ausdruck der Verlassenheit, die Sehnsucht nach etwas Bekanntem, doch jeden Morgen lernte sie von neuem, dass dort nichts Vertrautes war. Die Greifbarkeit dieser Angst verstörte ihn; denn zumeist erging Thomas sich in Ängsten, an die er nicht wirklich glaubte, ja, Erika Gelber hatte behauptet, er labe sich geradezu an ihnen, weil er nicht an sie glaube. Vielleicht aber trug er Gefühle in sich, die Erika nicht ergründet hatte? Nun gut, ich werde nicht alle Seelenschmerzen jetzt und hier heilen, dachte er, und ärgerte sich, der aufkommenden Beklemmung nicht rechtzeitig genug Einhalt geboten zu haben. Also machte er sich daran, sich anzukleiden. Als er schließlich im Anzug vor dem Spiegel stand, fand er die Gewissheit wieder, die Zukunft liege in seiner Hand. Dieses Modell war ein Erfolg, daran änderten alle Vorbehalte seiner Widersacher nichts, und jetzt vorwärts, geh raus und verkaufe es ihnen!
In den Monaten, in denen er nicht gearbeitet und untätig zu Hause gesessen hatte, wäre er ohne Klarissa in tiefe Depression verfallen. Ihrer Meinung nach war er mit allen Eigenschaften Siegfrieds gesegnet, musste ihm alles, was er anpackte, gelingen. Thomas hätte ein großartiger Architekt sein können, ein Schriftsteller, der die Geheimnisse der menschlichen Seele aufdeckte, vor allem jedoch wäre ihm ein kolossaler Erfolg als Filmproduzent beschieden gewesen. Ja, sie konnte ihn vor sich sehen, in Babelsberg, umringt von Schauspielern …
Zwanzig Minuten später war er bereit, auf die Straße zu treten, waren alle seine Gedanken schon in dem Sitzungssaal im Gebäude des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße. Klarissas Nähe suchte er nicht mehr, winkte ihr nur noch zu. Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu, der sogleich von einem begeisterten Lächeln abgelöst wurde, als hätte sie verstanden, dass dieser Tag auf ein einziges Ziel ausgerichtet war. Laut rief sie ihm nach: »Siegfried, erobere sie im Sturm!«
Rasch stieg er die Treppe hinab, grüßte jovial den Pförtner, gab sich auf der Straße der lauen Sommerbrise hin, als wollte er darin baden. Eine Limousine des Auswärtigen Amtes erwartete ihn. Eine Geste Ernst von Weizsäckers.
»Herr Heiselberg, guten Morgen«, begrüßte ihn der Fahrer. Er erwiderte den Gruß und ließ sich in den Fond des Wagens gleiten. Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an jenen Tag, an dem sein Vater ihm von dem Angebot berichtet hatte, in Russland zu arbeiten. Ein trüber Herbsttag im Jahre 1922, Thomas war von der Universität gekommen und wartete in Wagners Café auf ihn. Sein Vater erschien in einem Regenmantel mit abgewetzten Ärmeln, Bartstoppeln im Gesicht. Ohne Vorrede teilte er Thomas mit, er werde zu einer kleinen Gruppe von Ingenieuren, Technikern und Facharbeitern gehören, die bei der Errichtung eines Flugzeugwerkes unweit von Moskau helfen sollte. Obgleich sein Vater Kommunisten verabscheute, war er zufrieden über die anstehende Reise. Zwar widerstrebte ihm der Gedanke, nur wenige Jahre nach dem schrecklichen Krieg, in dem seine besten Freunde gefallen waren, für die Russen Kampfflugzeuge zu bauen, aber seit Deutschland ein Abkommen mit den Bolschewiken unterzeichnet hatte, hatte er es aufgegeben, seine Regierung zu verstehen. Das Angebot hatte zwei Vorteile: Erstens würde er befördert werden und mehr Lohn erhalten, und zweitens würde er für eine Weile von hier wegkommen. Und wenn er zurückkäme, würden Marlene und er ihre Ehe vielleicht doch noch retten können.
Wagner hatte ihnen Vanilleeis gebracht und sie herzlich begrüßt, worauf Thomas nur mit einem Nicken antwortete und sein Vater mit tiefer Stimme etwas krächzte. Danach trank er seinen Kaffee, und Thomas brachte ihm ein paar Sätze auf Russisch bei: »Ich möchte eine Portion Borschtsch«; »Mein Sohn wird bald die größten Unternehmen in Deutschland leiten«; »Man sagt, St. Petersburg sei die schönste Stadt in Europa«. Als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte sein Vater ihm in Erinnerung gerufen, er hoffe noch immer, dass sein Sohn sich dem »Deutschen Universitätsring« anschließen werde. Thomas hatte geantwortet, er werde mitnichten an der Universität herumlaufen und wie ein Idiot »Deutschland erwache!« schreien. Ohnehin sei er kein politischer Mensch.
Sein Vater war dann nach Russland gefahren und hatte seiner Frau und seinem Sohn von dort nur
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